Pater Dr. Peter Uzor: „Jesus will in seine Nachfolge den ganzen Menschen rufen, nicht nur ein Stück von uns“

 

Seine Auslegung zum Sonntagsevangelium (Mk 10,17-30) stellt unser geistlicher Begleiter Pater Dr. Peter Uzor unter die Überschrift: „Jesus rüh­rt den wunden Punkt an“.

 

Anbei die Worte seiner Predigt:

 

In einem Gedicht von Eugen Roth heißt es:

„Ein Mensch er­klärt voll Edelsinn,

er gäbe notfalls alles hin.

Doch eilt es ihm damit nicht sehr,

denn vorerst gibt er gar nichts her.“

Ich glaube, mit der Geschichte, die wir eben gehört haben, ist es ganz ähnlich. Da kommt ein Mann zu Jesus und fragt nach dem Weg zum ewigen Leben. Man könnte auch sagen, er ist auf der Suche nach einem Sinn für sein Leben. Ist das nicht toll? Dieser Mann, der da zu Jesus kommt, hat von Kindheit an alle Gesetze befolgt. – Was will man mehr? Man soll ihm nicht unterstellen, dass er lügt oder sich vor Jesus mit seiner Gesetzestreue brüsten will. Seine Frage: „Was fehlt mir noch zum ewigen Leben?“ ist keine rhetorische Frage. Er kommt in bester Absicht. Ihm ist klar, dass man sich auch bei größtmöglicher Gesetzestreue nichts auf sein Gutsein einbilden kann. Wer weiß, was Gott sonst noch von einem will. Also fragt er den Fachmann – Jesus.

Eigentlich seltsam, ja fast schon die Ausnahme, dass ein Mann wie er so eine Frage stellt! Er hat doch anscheinend alles, was das Leben ange­nehm macht, er ist ein guter Mensch und braucht sich nichts vorzuwerfen. Er braucht kein schlechtes Gewissen zu haben. Und trotzdem – oder gerade deswegen? – fragt er: „Was muss ich tun?“

Vielleicht steckt hinter dieser Frage auch Unsicherheit und Angst, weil damals schon die Bibelausleger und Schriftge­lehrten nicht immer einer Meinung waren. Die einen for­derten die strengste Befolgung auch der allerkleinsten Vor­schriften, die anderen waren liberaler. Drängt sich einem da nicht die Frage auf: „Was muss ich tun?“

Auch Jesus stellt die Gesetzestreue des Mannes nicht in Frage. Das wäre zweifellos ein leichtes, denn wer kann schon ernsthaft von sich behaupten, dass er alle Gesetze von Jugend an befolgt hat? Doch das ist für Jesus nicht der Punkt. Deshalb hält er sich mit solcher Nebensächlichkeit gar nicht erst auf. Vielmehr steuert er konsequent und zielstrebig auf den wirklich wichtigen Punkt für diesen Mann zu: seinen Reichtum. Daran hängt sein Herz. Er mag noch so oft betonen, dass er die Gesetze gehalten hat. Doch das heißt eben nicht automatisch, dass er konsequent dem Willen Gottes entsprechend gelebt hat.

Was aber ist der Wille Gottes?

Jesus verweist den Mann zunächst auf die Gebote. Aber die Beachtung der Gebote ist ja eigentlich selbstverständlich, das mindeste, was ein Gläubiger, ob Jude oder Christ, zu befolgen hat. Interessant ist, dass Jesus nur Ge­bote nennt, die sich auf das Zusammenleben mit anderen Menschen beziehen:

„Bring niemanden um, brich nicht die Ehe eines anderen, nimm ihm nichts weg, stürze ihn nicht durch eine falsche Aussage oder Verleumdung ins Unglück, beraube keinen und ehre deine Eltern!“

In dieser Beziehung hat sich der Mann nichts vorzuwerfen. All das befolgt er schon von Jugend auf. Von heutigen Zeitgenossen ist oft zu hören: „Herr Pfarrer, ich habe niemanden umgebracht, ich habe die Ehe nicht gebrochen, ich lüge nicht, ich nehme keinem was weg (außer vielleicht dem Finanzamt), eine Bank hab ich auch noch nicht über­fallen, ich geh sonntags in die Kirche, ich beichte ab und zu und geb was für die Caritas…

Aber reicht das schon als Eintrittskarte ins Himmelreich? Dem Mann im Evangelium reicht es offensichtlich nicht. Wir spüren das an seiner Antwort: „Das tue ich ja alles schon seit meiner Kindheit. Aber was muss ich noch tun?“ Er bekommt von Jesus kein Lob und kein Kompliment zu hören, was für ein frommer und guter Mensch er doch ist. Vielmehr fasst Jesus Zuneigung zu ihm, weil er spürt, dass er ehrlich auf der Suche ist und guten Willen hat. Und Jesus stellt eine unerhörte Forderung: „Wenn du wirklich ernst­lich Gott suchst, dann verkaufe alles, was du hast, gib das Geld den Armen und folge mir nach. Denn dann wirst du einen Schatz im Himmel haben.“ Damit trifft Jesus offensichtlich genau den wunden Punkt. Bei diesem Mann ist der Knackpunkt der Reichtum. Seinen Reichtum will er nicht aufgeben. Das wäre ein zu großer Verlust für ihn. „Geld ist nicht alles, aber kein Geld haben ist auch nichts“, mag er sich gedacht haben. „Alles hergeben – das ist zuviel verlangt. Eine Zumutung ist das. Nachfolge Jesu – das habe ich mir doch ein wenig einfacher vorgestellt.“

Damit hat Jesus den wunden Punkt getroffen. Der Mann geht betrübt weg. Seinen Reichtum will er nicht aufgeben. Das wäre ein zu großer Verlust für ihn. Das Einhalten der Gebote war demgegenüber offenbar leicht.

Wie gesagt, bei diesem Mann ist der Knackpunkt der Reichtum. Ich frage mich aber, ob der Reiche in dieser Geschichte nicht einfach als Beispiel für Menschen steht, die an ganz ver­schiedenen Dingen hängen und davon nicht loskommen. Und weil sie nicht loskommen, können sie sich auch nicht auf den Weg machen und Jesus nachfolgen.

Wir merken ja selbst oft, wie uns manche Dinge so sehr in Beschlag nehmen, dass wir z.B. nicht mehr zuhören kön­nen, weil wir nur mit uns selbst beschäftigt sind: mit einer Idee, einem Hobby, einer Arbeit oder einem Plan.

Es geht uns vielleicht nicht so sehr ums Geld. Aber dafür hat der eine nur noch seinen Hausbau im Kopf, der andere hat nur seine kleine Familie im Blick, der nächste spart verbissen auf seinen Traumurlaub, der Jugendliche verbringt die ganze Freizeit damit, den selbstgekauften Rostkübel wieder flottzumachen, der Jugendliche hat nur noch den Fußball und seinen Verein im Fokus, der Schüler sitzt ganze Nachmittage vor seinen Computerspielen und die Mini­stranten vergessen sogar das Ministrieren, weil Fußballtrai­ning ist. Manche alten Kirchenmitglieder sitzen nur noch vor dem Fernseher und kritisieren alles.

Ich könnte mir vorstellen, dass Jesus vom Gleichgültigen In­teresse verlangt, vom Bequemen Mitarbeit, vom Hektiker, Zeit für andere zu haben.

Ich könnte mir vorstellen, dass Je­sus bei jedem von uns genauso den wunden Punkt anrüh­ren würde wie bei dem reichen jungen Mann. Denn wir sind ebenso reich: reich an Geld, reich an Beziehungen, reich an Zeit, an Begabungen, an Erfahrung. All das dürfen wir nicht nur für uns selbst behalten wollen. Nur wenn wir es in Dienst stellen, hergeben, zur Verfügung stellen, kann Reich Gottes wachsen und ein Schatz im Himmel entste­hen.

Dieses Evangelium erfordert vor allem eine hohe Aufmerksamkeit für das Leben um mich herum. Dabei wird den einzelnen von uns Unterschiedliches schwer fallen zu teilen. Wenn Sie zum Beispiel an die Fastenzeit denken: Für die einen ist es überhaupt kein Problem, auf Süßigkeiten oder Fernsehen, auf Computerspiele oder Alkohol zu verzichten. Für die anderen dagegen ist es eine Tortur, die ihnen enorm schwerfällt. Erst die Aufforderung zum Verzicht auf dieses oder jenes macht deutlich, wie sehr wir daran hängen. Wir können möglicherweise sogar viele Gründe ins Feld führen, warum gerade dies oder jenes für uns wichtig und unverzichtbar ist. Doch solche Ausweichmanöver sollten uns wenigstens Anlass sein, innezuhalten und zu fragen, ob ich mir da nicht etwas vormache. Ob ich nicht einfach nur den bequemen Weg gehe, der mir erspart, mein Leben zu ändern – der aber nicht wirklich zu einem guten Leben für alle Menschen führt. Vielleicht nicht einmal für mich selbst.

Gerade wenn ich das heutige Evangelium in dieser grundsätzlichen Weise verstehe – wenn es also nicht nur um den großen Reichtum geht, dann geht es jeden und jede von uns an.

Aber jetzt werden wir unruhig. Wo kämen wir denn hin, wenn wir diese Forderung Jesu tatsächlich ernst nehmen würden?

Selbst die Jünger wurden ja unruhig, weil sie sahen, dass das, was Jesus verlangt, eigentlich kein Mensch erfüllen kann. Und sie fragen: „Wer kann da noch gerettet werden?“ Die Jünger haben ja schon das Äußerste getan, was ein Mensch tun kann: sie haben alles verlassen, woran ein Mensch hängen kann: Haus und Hof, Acker, Eltern, Frau und Kinder. Reicht denn das immer noch nicht?

Jesus stellt klar, worum es ihm geht: dass wir die Rangord­nung der Dinge nicht durcheinanderbringen.

Er weiß, dass es ohne materielle Dinge und ohne Beziehungen zu den Menschen nicht geht. Aber zuerst kommt das Reich Gottes. Zuerst kommt die Nachfolge Jesu. Und wer dafür auf manches verzichtet, wer um Jesu willen davon loskommt, nur ans Geschäft, nur ans Häuslebauen, nur an Fußball, nur ans Auto, ans Hobby, an den Urlaub, die Verwandten oder an sich selbst zu denken – der beginnt mit der Nach­folge Jesu.

Wer anfängt, das, was er ist und was er hat, mit anderen zu teilen und zur Verfügung zu stellen, der be­ginnt, sich einen Schatz im Himmel zu erwerben.

Jesus kennt uns und unsere wunden Punkte. Er mag uns, und gerade deshalb fordert er uns da, wo es uns vielleicht am härtesten trifft. Denn er will in seine Nachfolge den ganzen Menschen rufen, nicht nur ein Stück von uns. Wir spüren genau, dass uns eine solche radikale Nachfolge, wie sie Jesus hier fordert, nicht von heute auf morgen gelingen kann. Aber wir sollten deshalb nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, weggehen und sagen: „Dann ist das sowieso nichts für mich!“

Wir könnten es zumindest mit kleinen Schritten versuchen. So, wie es ein Morgengebet im alten Gotteslob zeigt:

Herr, du schenkst mir jeden neuen Tag, und Jeder Tag ist gleich wichtig vor dir. Ich danke dir für diesen Tag. Gib, daß ich ihn ernst nehme: die Aufgaben, die mich heute fordern, die Menschen, denen ich begegne, die Erfahrungen, die er bringt, das Bittere, das mir widerfährt. Laß mich auch dann frei bleiben, wenn mich tausend Dinge in Beschlag nehmen. Laß mich ruhig und gelassen bleiben, wenn ich vor Arbeit nicht mehr ein noch aus weiß. Laß mich dankbar sein für alles, auch wenn dieser Tag mir Mühe bringt.

Herr, an diesem Morgen bedenke ich vor dir den Tag, der jetzt für mich beginnt. Auch wenn ich heute nicht alles in deinem Sinn tun kann, hilf mir, deinen Willen etwas besser zu tun als gestern. Auch wenn deine Gegenwart mich nicht ganz durchdringt, hilf, daß sie mir nicht verlorengeht. Auch wenn ich nicht alle Menschen selbstlos lieben kann, hilf, daß ich keinen entmutige, der mir begegnet. Auch wenn mein Herz deine Ewigkeit nicht umfängt, gib mir Zuversicht für den nächsten Schritt. Jeder neue Tag ist ein neues Ange­bot von dir, Herr. Hilf mir, daß ich es nutzen kann. (GL 15,6.)