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Pater Christoph Kreitmeir: „Beten ist Sehnsucht UND Sehnsucht ist Beten“

In seiner Auslegung zum heutigen Sonntagsevangelium (Lk 11, 1-13) geht unser geistlicher Begleiter Pater Christoph Kreitmeir der Frage nach, was Gebet eigentlich ist, wie Beten geht und was es bewirkt.

 

Anbei die Worte der Predigt von Pater Kreitmeir als Audio-Datei und anschließend im Textformat:

 

 

Im Evangelium hörten wir von der Bitte der Jünger an Jesus: Herr, lehre uns beten … Dabei stellt sich immer wieder die Frage, was Gebet eigentlich ist und wie Beten geht?

Bei einem Vortrag über Sehnsucht fragte mich einmal eine Frau, was aus meiner Sicht eigentlich Gebet sei. Normalerweise antworte ich schnell, hier ließ ich mir Zeit und wun­derte mich dann selbst über das, was mir über die Lippen kam:

Beten ist Sehnsucht UND Sehnsucht ist Beten.

Beten ist das Gewahrwerden einer Nabelschnur zu Gott, die zwar irgendwann einmal durchtrennt wurde, die unsichtbar aber da ist. Wie der Nabel uns an die Nabelschnurver­bindung mit unserer Mutter im Mutterleib erinnert, so erinnert uns die Sehnsucht an unsere Verbindung zu Gott, unserem Ursprung und unserem Ziel.

Der frühere Papst Benedikt XVI. sagte einmal in seiner Enzyklika ‚Deus caritas est‘: „Wer betet, vertut nicht seine Zeit, selbst wenn die Situation alle Anzeichen der Dringlichkeit besitzt und zum Handeln zu treiben scheint.“

Wer betet, verbringt Zeit mit sich selbst und mit Gott.

Wer in einer immer stärker wer­denden säkularen Welt, also einer Welt, in der Gott nicht mehr vorkommt, das Beten nie gelernt hat, weil er „religiös unmusikalisch ist“ (Max Weber), kann das Beten als eine Zeit für sich und mit sich ansehen. Eine kostbare Zeit, die wir uns nehmen sollten. Denn sie weitet unseren oft so engen Horizont und sprengt unsere innere Verschlossenheit auf eine Weite hin, die befreiend wirken kann.

Die Zeit des Betens, sei es mit Worten, Gesang, still oder meditierend, macht uns frei und führt uns über den Tellerrand unseres Egos hinaus.

Große spirituelle Menschen aller Religionen und aller Zeiten entdeckten diese Weisheit und handelten danach: sie beteten.

„Gebet ändert nicht die Welt, aber es ändert die Menschen. Und die ändern die Welt.“ Albert Schweitzer soll das gesagt haben. Angesichts der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen bei uns und weltweit „nur“ zu beten, scheint naiv zu sein, ein Zeichen von Hilflosigkeit, wenn nicht gar Flucht in eine heile, fromme Welt.

Große Beter waren aber oft auch sehr engagiert und Menschen, die gesellschaftlich viel bewegten, haben aus tiefen spirituellen Quellen gelebt, wie z. B. Mahatma Gandhi. Die Engländer, die Indien sehr lange als Kronkolonie knechteten, sagten einmal: Wenn die Inder revoltieren, dann schlagen wir sie nieder. Wenn Mahatma Gandhi aber zu beten und zu fasten anfängt, dann müssen wir uns in Acht nehmen. Gandhi führte Indien in die Freiheit.

1989 führte die sog. „Rosenkranz-Revolution“ auf den Philippinen zum Ende des diktatorischen Marcos-Regimes. Und die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche standen am Anfang der Montagsdemonstrationen und trugen entscheidend zum Fall der Mauer bei.

Unser Leben verläuft in verschiedenen Phasen, die auch unser Beten beeinflussen. Vereinfacht will ich sie so benennen:

  • Kindheit (rezeptiv – passiv aufnehmend und wiederholend),
  • Jugend (expansive Phase – Wachstum und Entwicklung der eigenen Identität),
  • Erwachsenenalter (sozial – mit anderen verbunden und dabei doch sein Eigenes findend),
  • Alter (tröstend, haltgebend, sinnstiftend).

(In meiner Audiopredigt gehe ich darauf noch genauer ein, weil es nicht nur interessant ist, sondern wirklich auch hilfreich im Erkennen des tieferen Schatzes von Gebet.)

Leider herrscht eine zunehmende Sprachlosigkeit Gott gegenüber in unserer immer säkularer werdenden Welt.

Dies kann viele Gründe haben. Zunehmende Unfähigkeit, Gott zu erkennen (Agnostizismus) oder ein klarer Atheismus, der alles, was mit Gott zu tun hat, leugnet. Oder auch die bewusste Entscheidung, Gott nicht mehr zu thematisieren, damit man im Mainstream der Meinungen nicht aneckt.

Gott sei Dank haben wir, die wir im Glauben unterwegs sein dürfen, diese Sprachlosigkeit nicht – hoffentlich nie – und können uns deshalb in die Schar der hörenden Jünger einreihen, die von Jesus ein Gebet nahegebracht bekamen, das Christen weltweit untereinander verbindet und vor allem auch mit Gott Vater in Kontakt bringt, das Vater-unser!

Es gilt als das „Gebet der Gebete“ und kann als eine Zusammenfassung der christlichen Botschaft angesehen werden. Das Vater-unser verbindet Vertrauen in Gott mit der Verantwortung für die Welt und die Menschen. Die Bitten im Gebet drücken eine tiefe Sehnsucht nach Gottes Reich und gleichzeitig die Bereitschaft aus, daran mitzuwirken.

Entdecken wir die Welt des Betens neu. Dies wird uns verlebendigen und bereichern. Ganz sicher! Amen.

Anbei das Lied „Vater unser“ der Musikerin Hanne Haller (1950 – 2005), zu dem sie das ‚Gebet der Gebete‘ inspirierte:

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