Pater Dr. Peter Uzor: „Die Liebe zu Gott öffnet die Augen für die Welt“
Seine Auslegung der Sonntagslesung (Dtn 6,2-6)und des Sonntagsevangeliums (Mk 12,28-34) stellt unser geistlicher Begleiter Pater Dr. Peter Uzor unter die Überschrift „Keine Überforderung: Lieben mit Herz und Verstand“. Dabei beschreibt er, was in den Augen Jesu wirklich wichtig im Leben ist.
Anbei die Worte seiner Predigt, die Pater Peter heute in der Sonntagsemsse in St. Josef in Grubs am Forst bei Coburg hielt:
Schnell lautet manchmal das Urteil: Dies oder jenes sei „nicht christlich“! Manche Menschen halten Streiten nicht für christlich. Jemanden anzeigen sei nicht christlich. Und Abmahnungen und Kündigungen verstoßen gegen die Nächstenliebe. Stimmt das?
Die heutigen Lesungen bewahren uns davor, das Liebesgebot in den falschen Hals zu kriegen.
Im Evangelium hören wir vom Gespräch zweier Juden. Es geht um das Thema Gesetz, die Tora. Jesus ist auf seinem Weg von Galiläa in Jerusalem angekommen. Hier steht der Tempel, zu seiner Zeit das zentrale jüdische Heiligtum. Auch damals gab es nicht „die“ Juden, sondern viele verschiedene Richtungen. Unmittelbar vor dem heutigen Evangelium debattiert Jesus in Jerusalem mit Sadduzäern über die knifflige Frage der Auferstehung. Das bekommt ein Schriftgelehrter mit. Ihm gefällt, wie Jesus den Sadduzäern gegenüber argumentiert.
Im heutigen Evangelium sucht dieser Schriftgelehrte das Gespräch mit Jesus: Was ist das erste Gebot? Das ist keine Falle. Er will Jesus nicht auf die Probe stellen. Er sucht vielmehr den Konsens. Verschiedene Juden zurzeit Jesu würden die Frage unterschiedlich beantworten, zum Beispiel: Das Erste ist der Kult im Tempel! Oder: Das Erste ist das wörtliche Befolgen aller Gebote! Jesus könnte bei seiner Antwort verschiedene Stellen aus der Tora zitieren. Der Schriftgelehrte ahnt, dass Jesus ihm näher ist als die Sadduzäer, dass er ähnliche Prioritäten hat wie er selber. Daher fragt er nicht nach Geboten, sondern nach dem einen, das wesentlich ist. Jesus zitiert die Aufforderung, Gott zu lieben – und die Aufforderung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Beides bildet für ihn eine Einheit.
Der Schriftgelehrte lobt Jesus und sieht sich bestätigt: Genau das ist mehr als alle Opfer im Tempel! Auch Jesus lobt den Schriftgelehrten: Du bist nicht fern vom Reich Gottes! Was das erste Gebot angeht, sind sich die beiden Juden einig.
Das erste Zitat aus der Tora, das Gebot der Gottesliebe, war heute unsere erste Lesung. „Höre Israel!“ Diese Verse aus dem Buch Deuteronomium wiederholen Juden und Jüdinnen bis heute mehrmals am Tag. Am Ende der Lesung war davon die Rede, dass diese Worte weder auf Stein noch auf Papier, sondern auf das Herz geschrieben werden sollen. Sie sollen in Fleisch und Blut übergehen, ins ganze Leben. Kein Wunder, dass Jesus und der Schriftgelehrte ausgerechnet diese Stelle für wesentlich halten: Beim Leben mit der Tora geht es nicht um Äußeres, sondern um innere Tiefe! Die hat Konsequenzen nach außen: weniger im Kult, mehr in der Ethik.
Die Liebe zu Gott öffnet die Augen für die Welt.
Jesus und der Schriftgelehrte verbinden die berühmten Verse zur Gottesliebe mit einem Satz aus dem Buch Leviticus: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Lev 19,18)!
Dieser Satz ist keine christliche Erfindung. Er ist wie das berühmte „Höre, Israel!“ ein Zitat aus dem Alten Testament, aus der Tora. Er verbindet uns mit dem Juden Jesus, mit dem Schriftgelehrten aus dem Evangelium und mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern heute.
In der Lesung hieß es: Israel soll Gott lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft. Haben Sie noch im Ohr, wie Jesus diesen Vers im Markusevangelium zitiert? Da ist die Rede vom ganzen Herzen, von der ganzen Seele, vom ganzen Denken und von der ganzen Kraft. Jesus ergänzt das Denken! Auch der Schriftgelehrte spricht davon, dass wir mit ganzem Verstand lieben sollen. Das ist bemerkenswert. Für viele ist die Liebe (nur) eine Herzensangelegenheit – keine Sache des Verstandes. Jesus und der Schriftgelehrte sind sich auch hier einig: Die Liebe schaltet das Denken nicht aus.
Gerade weil die Liebe nicht blind macht, braucht, wer liebt, einen klaren Kopf.
Denn die Liebe stellt sich der Frage: Wann ist was dran? Zuerst Gott lieben, heißt ja gerade nicht, den ganzen Tag nur noch beten und alles andere aus dem Blick verlieren.
Das Ideal der Nächstenliebe hat viele Bewunderer – und viele Kritiker.
Friedrich Nietzsche war die Nächstenliebe suspekt: Sie führe zur Selbstlosigkeit. Und sich selber los werden, das wollte Nietzsche nicht. Sigmund Freud hielt die Nächstenliebe für eine Überforderung – höchstens dazu geeignet, uns ein schlechtes Gewissen zu machen. Vielleicht hätten die beiden besser das Markusevangelium studieren sollen.
Die Liebe, von der Jesus und der Schriftgelehrte im Einklang mit dem Alten Testament sprechen, überfordert nicht.
Sie ist nicht unvernünftig. Sie führt nicht dazu, sich selber aufzugeben. Es heißt ja nicht: Liebe Deinen Nächsten mehr als Dich selbst! Wer die Aufforderung aus der Bibel so missversteht, ist nicht heilig, sondern größenwahnsinnig. Denn womöglich will er oder sie damit ganz groß rauskommen – und ist damit letztlich doch wieder nur bei sich, nicht wirklich beim Nächsten!
Papst Franziskus hat in seinem Schreiben über die Freude der Liebe, Amoris laetitia, klargestellt: Wer unfähig ist, sich selbst zu lieben, hat Schwierigkeiten, andere zu lieben (AL 101). Wer sich selbst liebt, lässt nicht alles mit sich machen. Es gibt eine „gesunde Verteidigung der eigenen Würde“ (AL 105).
Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst, kann also durchaus heißen: Ich erspare uns diesen Konflikt nicht. Mit Respekt benenne ich, was mich verletzt – und was sich ändern soll. Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst, kann heißen: ein Auge zu drücken. Oder konsequent sein. Das kommt ganz drauf an.
In unserer christlichen Tradition ist die Kunst zu lieben weiter reflektiert worden.
Ignatius von Loyola, zu dessen Orden Papst Franziskus gehört, meinte vor fünfhundert Jahren: Das, was passt, kann ich daran erkennen, dass es nicht kurzfristig, sondern langfristig inneren Frieden schenkt. Wer immer alles einsteckt, erlebt womöglich kurzfristig Frieden. Denn ein anstrengender Konflikt bleibt aus. Aber langfristig kann es sein, dass er oder sie vor die Hunde geht. Oder jemand, der oder die schnell explodiert und mit Worten auf andere schießt, kann kurzfristig Erleichterung erfahren. Langfristig dient es mehr dem Frieden, diese Energie für das Finden von gemeinsamen Lösungen zu verwenden. Ignatius meint:
Die Liebe braucht die Unterscheidung. Sie ist flexibel. Je nach Situation kann sie sich so oder so zeigen.
Gott hat uns ein offenes Herz geschenkt. Es ist gut, wenn zu uns durchdringt, was los ist: bei uns selber und bei anderen. Gott hat uns Verstand geschenkt. Manche Entscheidungen können nicht lange warten. Anderen tut gut, wenn wir erst nachdenken. Es ist gut, wenn unsere Liebe in Kontakt ist mit Gefühlen und Argumenten! Gott hat uns Hände gegeben: zum Beten, zum tatkräftigen Anpacken, zum Zärtlichsein. Möge das wunderbare Gebot zu lieben nicht nur in unserer Bibel stehen, sondern eingeschrieben sein in unser Herz! Amen.
Anbei das Kirchenlied „Wenn das Brot, das wir teilen“, das heute in der Sonntagsmesse im Anschluss an die Predigt von Pater Peter gesungen wurde.