Pater Peter Uzor: „Wir alle sind vergebungsbedürftig“
In seiner Auslegung zum Evangelium vom vergangenen Sonntag (Mt 18,21-35) geht unser geistlicher Begleiter Pater Dr. Peter Uzor darauf ein, wie schwierig, aber dennoch entscheidend wichtig für unser Christ-Sein, das Thema Vergebung ist. Eine echte Herausforderung, die auch für unsere Gesundheit von großen Bedeutung ist.
Hier die Worte seiner Predigt:
Vor einigen Jahren sagte der Gründer des internationalen Instituts für Vergebungsforschung, Robert Enright, in einem Gespräch, dass Vergebung körperlich und seelisch gut tue. Dies könne man mittlerweile auch mit wissenschaftlichen Methoden nachweisen. Die Frage stelle sich dann, so Enright weiter, wie man Menschen dabei helfen könne, dass sie dazu in der Lage oder bereit sind, anderen zu verzeihen.
Was können Menschen tun, damit sie anderen ihre Schuld vergeben und die erfahrene Kränkung loslassen?
Mittlerweile kann man mit den bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften sehr gut nachvollziehen, was im Gehirn passiert, wenn man nicht verzeihen kann, und welche blockierenden Auswirkungen dies auf die eigene Lebensführung und das zwischenmenschliche Verhalten hat. Man bleibt gleichsam mitgefangen und verstrickt in der Schuld des anderen. Die psychologische Vergebungsforschung hat daher auch Vergebungstrainings entwickelt. In Veranstaltungen sollen Menschen lernen, wie man Schritt für Schritt dem anderen verzeihen kann – ohne dass deshalb das erlittene Unrecht heruntergespielt, vergessen oder dem anderen seine Schuld abgenommen werden müsste.
Vergebung – so die grundlegende Einsicht – fördere die Gesundheit und sei allein schon aus klugem Eigeninteresse ratsam.
Der Diener, von dem das Gleichnis im Matthäusevangelium erzählt, wäre mit Sicherheit ein geeigneter Kandidat für ein solches Vergebungstraining gewesen. Er hätte sich und anderen Menschen viel erspart. Mit zehntausend Talenten war er gegenüber dem König, seinem Herrn, so hoch verschuldet, dass er tatsächlich keine Chance hatte, seine Schulden jemals zu begleichen. Der Diener sollte mitsamt seiner Familie und seinem Hab und Gut auf Befehl des Königs verkauft werden, damit dieser wenigstens einen Bruchteil der Talente wiederbekomme. Die Lebenschancen des Dieners jedoch wären endgültig dahin.
Das verzweifelte Flehen des Dieners, sein Herr möge mit ihm Geduld haben, damit er alles zurückbezahlen könne, ist verständlich – aber eigentlich völlig unrealistisch. Denn eine solch große Schuld lässt sich niemals abtragen. Aus wirtschaftlicher Perspektive würde es keinen Sinn machen, sich auf das Bitten des Dieners einzulassen, das wäre bloß Augenwischerei. Das weiß sicherlich auch der König. Doch anstatt den Diener mit der brutalen Wahrheit zu konfrontieren, ihm die Haltlosigkeit seines Vorschlags vorzuhalten und damit bloß zu stellen, lässt sich der König von dessen Not berühren. Er hat Mitleid mit ihm und erlässt ihm großzügig die Schuld.
Soweit so gut. Befreit von seiner Schuld, begegnet der Diener einem anderen Diener. Dieser schuldet nun ihm hundert Denare. Doch anstatt ebenfalls Großzügigkeit walten zu lassen, lässt er diesen in das Gefängnis werfen, bis die Schulden abgetragen sind. Was für ein Widerspruch!
Der Diener hat sich durch die selbst erfahrene Barmherzigkeit nicht verändern lassen.
Die Empörung der übrigen Diener ist verständlich; sie berichten es dem König. Dieser überstellt den hartherzigen, erbarmungslosen Diener den Folterknechten, bis seine Schuld beglichen ist. Ein betrüblicher und aufrüttelnder Schluss des Gleichnisses.
Wenn wir im Vaterunser beten „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, dann ist die Logik von Vergebung, wie sie im Gleichnis erzählt wird, umgedreht: Im Vaterunser bitten wir um Gottes Vergebung, weil auch wir anderen Vergebung gewähren. Der Diener dagegen hat bereits Vergebung von seinem König erfahren; er hat vom König sogar mehr erhalten, als er erfleht hat, nämlich nicht nur Aufschub, sondern völligen Schulden-Erlass. Doch anstatt daraus zu lernen und sich selbst dadurch verändern zu lassen, bleibt er in der engen Logik, sämtliche Schuld begleichen zu müssen. Dieser Logik zufolge bindet Schuld und Loslösung, Erlösung wird nur dann möglich, wenn die Schuld ganz abgetragen wird.
Nun verhält es sich mit existenzieller und moralischer Schuld aber anders als mit materiellen Schulden.
Während man etwa Geldschulden grundsätzlich tilgen und damit wieder einen Ausgleich herstellen kann, ist dies bei existenzieller oder moralischer Schuld nicht wirklich möglich. Denn man hat damit etwas in die Welt gesetzt, was man nicht mehr rückgängig machen kann. Moralische oder existenzielle Schuld hält gefangen, ein verletzendes und kränkendes Wort lässt sich nicht unausgesprochen machen, Betrug und Täuschung verletzen das Vertrauen und wirken nach.
Alle Menschen kennen die Erfahrung von Schuld, sowohl als jemand, der Schuld begangen hat, wie auch als jemand, der Schuld erlitten hat. Darin sind alle Menschen vereint. Wenn wir im Vaterunser um die Vergebung unserer Schuld bitten, dann stellen wir uns gemeinsam auf dieselbe Stufe:
Wir alle sind vergebungsbedürftig, angewiesen auf Verzeihung und Nachsicht.
Darin sind alle Menschen gleich, auch wenn es durchaus Unterschiede in der jeweiligen Schuldverstricktheit geben kann.
Ernsthaft um Vergebung zu bitten, setzt voraus, dass man sich zu seiner Schuld bekennt und bereit ist, dafür Verantwortung zu übernehmen. Es bedeutet aber auch, etwas ändern zu wollen und zu versuchen, einen Weg der Wiedergutmachung zu finden. Ohne die Bitte um Entschuldigung wird das alles jedoch schwerlich möglich sein.
Wer schuldig geworden ist, weiß, wie befreiend es ist, wenn die betroffene Person einem verzeiht und man nicht mehr auf die begangene Schuld festgelegt wird. Neuanfang wird möglich.
Und aus dieser Erfahrung heraus selbst Vergebung zu schenken, ist dann selbst Ausdruck von geschenktem Neuanfang, ist Ausdruck von Solidarität in der Schuldgemeinschaft aller Menschen.
Das Gleichnis will aufrütteln, dass wir nicht vergessen, wie sehr wir selbst auf Vergebung und die Versöhnung mit anderen angewiesen sind.
Und da wir selbst begangenes Unrecht nicht ungeschehen machen können, ist die eigene Vergebungsbereitschaft eine Form, mit der eigenen Schuldgeschichte umzugehen.
Doch woher nehmen wir die Kraft dazu? Wie ist es möglich, dass die eigene Schuld uns nicht so niederdrückt, dass wir verzweifeln oder gelähmt sind? Und was hilft uns, dass die erlittenen Kränkungen uns nicht so zerstören und vergiften, dass Neuanfänge unmöglich sind?
Im Gleichnis bekommen wir mehrere Hinweise: Weil Gott uns zuerst die Möglichkeit zum Neuanfang schenkt, weil Gott uns nicht in unserer Schuld gefangen hält – deshalb können und sollen wir uns auch untereinander nicht in der Schuld fixieren, sondern Vergebung schenken und um Vergebung bitten.
Gott kommt uns mit seinem Erbarmen zuvor und darum sollen wir auch selbst so handeln.
Der Vergebungsbitte im Vaterunser geht die Erfahrung und die Zusage, Gott hat uns schon längst vergeben, also voraus.
Doch wie können wir das konkret umsetzen? Dazu bedarf es mehreres, wie das Gleichnis zeigt: Der König und der Diener nehmen zuerst wahr und anerkennen, dass eine Schuld vorliegt. Dann stellt er fest, wer die Schuld verursacht und wer dafür die Verantwortung zu übernehmen hat, nämlich der Diener. Der König lässt auch das Gefühl zu, dass er der Geschädigte ist. Und schließlich hat er Mitleid mit dem Diener, er fühlt sich in dessen Lage ein, so dass er ihm die Schuld erlässt.
Das Gleichnis kann so auch wie eine kleine Psychologie der Vergebung gelesen werden – aber auch noch als mehr: nämlich als eine besondere Qualität dessen, was es heißt, Christ zu sein und als Gemeinschaft in der Kirche zu leben: nämlich als Versöhnungsgemeinschaft, die sich von Gottes Liebe und Erbarmen getragen weiß.
Beten wir darum, dass wir um Vergebung bitten und Verzeihung gewähren können. Amen.
Hier – passend zur Predigt von Pater Peter Uzor – der Song „Halleluja“ von Peter Maffay: