Paul Kirchhof: „Der Mensch braucht eine Vernunft, die das eigene Ego transzendiert“

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Der Verfassungs- und Steuerrechtler Paul Kirchhof, der von 1987 – 1999 Bundesverfassungsrichter und bis 2013 Lehrstuhlinhaber für Staatsrecht an der Uni Heidelberg war, übernimmt im November 2022 die Gastprofessur der „Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.-Stiftung“ an der Universität Regensburg. Im Interview mit bistum-regensburg.de sprach der 79-Jährige über das Verhältnis von Religion, Staat und den Begriff der Freiheit.

Paul Kirchhof, der einer der bekanntesten deutschen Intellektuellen ist, sieht für die Zukunft von Glaube, Religion und Kirche alles andere als schwarz, auch wenn sich die Kirche gegenwärtig in Deutschland und Europa „in einem  gewissen Tief“ befinde. Seine optimistische Sicht begründet Kirchhof damit, dass für eine freiheitliche Gesellschaft der freiheitsberechtigte Mensch „Maßstäbe wie Ethos und Moral mitbringen“ müsse, damit die Freiheit nicht beliebig und willkürlich wird. Mit Blick auf die potentiellen Quellen von Ethos und Moral erkennt der renommierte Staatsrechtler in unserer Gesellschaft die Familien, die Kirchen, „vielleicht noch den Sport“ und die „Universität mit ihrer Rationalität“. Dazu betont er nüchtern:

„Mehr haben wir nicht.“

Kirchhof zeigt sich überzeugt, dass die Bedeutung des Glaubens wieder zunehmen wird, wenn Menschen mit Blick auf gelingendes Leben sich – auch im Kontext gegenwärtiger Enttäuschung und Unsicherheit – bewusst werden, „dass sie Orientierungspunkte und Gewissheit sowie eine Vernunft brauchen, die das eigene Ego transzendiert“.

Darüber hinaus ist sich der 79-Jährige gewiss, dass es einen Staat ohne Religion nicht geben könne, was „alle kulturgeschichtlichen Einsichten“ beweisen würden. Dazu betont Kirchhof:

„Der Mensch denkt über seine eigene Existenz hinaus. Er sucht eine Antwort, die er allein durch Vernunft und Logik nicht finden kann.“

Um vernunftbegründete Antworten zu erhalten, suche der Mensch nach „Rechtsgemeinschaften“, in denen er den Glauben „in der Religion, in der Gemeinschaft und dann in der Kirchlichkeit wahrnehmen könne. Bei einem Wegbrechen der Religion aus der Gesellschaft sieht Kirchhof gar die daraus folgende Gefahr, dass aus Freiheit Willkür werden würde. Dagegen wehre sich aber „jeder freiheitsdenkende Mensch“, was der Staatsrechtler wie folgt weiter begründet:

„Je höher die Kultur ist, desto dringlicher wird das Begehren nach Freiheit und damit nach Maßstäben, die dieser Freiheit in der Wahrnehmung einen subjektiven Inhalt geben.“

 

Explizit hebt Paul Kirchhof im Interview mit dem Bistum Regensburg den Wert der Religionsfreiheit für ein friedliches Miteinander hervor. Der weltanschaulich neutrale Staat halte sich in Wahrheitsfragen offen, „damit jeder seine Wahrheit suchen und finden kann, dass er jeden in seiner Subjektivität achtet und jedem eine Würde zuspricht“.

Die herausragende Bedeutung des christlichen Gottes- und Menschenbildes für unser Verständnis von Menschenwürde hebt Kirchhof wie folgt hervor:

„Das Grundgesetz beginnt mit dem großen Satz: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘. Und das ist eine Idee des Urchristentums. Wenn der Mensch die Möglichkeit der Gottesbegegnung hat, wenn er sich bemüht, diesem Ideal der Vollkommenheit nahe zu kommen, ist das der radikalste Freiheitssatz der Rechtsgeschichte.“

Dazu betont er weiter:

„So etwas haben wir noch nicht gehabt und etwas Besseres werden wir auch nicht haben.“

Der weltanschaulich neutrale Staat nutze diese Früchte des christlichen Glaubens.

Hinweis: Das komplette, sehr lesenswerte Interview von Paul Kirchhof mit dem Bistum Regensburg gibt’s unter:

bistum-regensburg.de

Wie aktuell im Interview mit dem Bistum Regensburg hat Paul Kirchhof die hohe Bedeutung des christlichen Glaubens für unser freiheitliches Leben seit vielen Jahren in Vorträgen und Interviews unterstrichen. Wie Radio Vatikan am 25. März 2008 berichtete, erklärte der renommierte Staatsrechtler:

„Ich glaube, gerade in unserer Gegenwart, in der die Kulturen aufeinanderprallen, in der wir das Problem eines weltweiten Terrorismus haben, in der die Weltoffenheit der Märkte die unterschiedliche Verteilung der Güter bewusst macht, zeigt sich dieser Glaube als die Antwort auf unsere Zukunft. Der Grundgedanke – dass jeder Mensch die gleiche Würde hat – kommt aus Griechenland und aus dem Judentum; er hat aber im Christentum seine wesentliche Ausprägung erfahren.“

Dazu betonte er weiter:

„Der Mensch ist Ebenbild Gottes, Gott ist Mensch geworden. Das ist ein nahezu revolutionärer Gedanke. Das heißt: Jeder Mensch kann diesem Gott eine Heimat geben! Das ist ja ein radikaler Gleichheits- und Freiheitssatz, wie es ihn in der Rechtsgeschichte als solchen noch nie gegeben hat. Und er ist gegenwärtig, wo wir in der Offenheit der Welt die Verschiedenheit der Menschen, aber auch der Völker, der Gruppen, der Kulturen empfinden, aktueller denn je.“

 

Im Jahr 2009 hob Paul Kirchhof im Zuge des Volksbegehrens zum Religionsunterricht in Berlin ebenso die Bedeutung des christlichen Glaubens für Verfassung und Gesellschaft hervor, indem er u.a. äußerte:

„Der christliche Glaube ist eine unabdingbare Voraussetzung unseres Grundgesetzes.“

Die Annahme der Menschenwürde gründe sich auf der christlichen Überzeugung, dass Gott in Jesus Mensch geworden sei, erklärte Paul Kirchhof seinerzeit in der Humboldt-Universität in Berlin.

Zugleich warnte er vorausschauend:

„Wehe dem, der Ethos und Religion aus der Gesellschaft herausdrängt. Das Fundament unserer Verfassung würde verkümmern.“

Quellen: radiovaticana.vapro-medienmagazin.de