Pfarrer Christoph Kreitmeir: „Für Jesus war der Mensch immer wichtiger als starres Regelwerk“

In seiner Auslegung des heutigen Sonntagsevangeliums über die Berufung der zwölf Apostel durch Jesus (Mt 9,36 – 10,8) beschreibt unser geistlicher Begleiter Pfarrer Christoph Kreitmeir, auch mit Blick auf den jüdischen Psychiater und Philosophen Viktor Emil Frankl, worauf es bei der Nachfolge Jesu wirklich ankommt.

Hier die Worte seiner Predigt (auch als Audio-Datei unter dem Text!) 

Wer mich kennt, der weiß, dass ich immer wieder gerne den jüdischen Psychiater und Philosophen Viktor Emil Frankl zitiere. Dies liegt auch daran, dass er mir mit seinem psychologischen Ansatz als junger Mann bei meiner existentiellen Suche nach Sinn und Halt im Leben ein echter Wegweiser und ein stimmiges Vorbild war und bis heute ist. Die Grundaussage seiner Sinn-Lehre, der Logotherapie ist, dass das Leben unter allen Umständen – unter allen Umständen ! – einen Sinn hat. Und das sagt ein Mann, der 2 ½ Jahre in vier KZs verbringen musste und fast seine ganze Familie verlor.

Dieser Viktor Emil Frankl zitierte immer wieder gerne den berühmten jüdischen Gelehrten Hillel, der ungefähr ein Jahrhundert vor Jesus lebte und dessen Denken und Frömmigkeit nachweislich beeinflusst hatte (siehe dazu auch hier).
Berühmt sind z. B. drei Fragen, die jedem Menschen quasi ganz persönlich gestellt werden, die ihn höchstpersönlich angehen (vgl. Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge, Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, 1987, 116, FN 40):

  • Wenn nicht ich es tue – wer soll es tun?
  • Und wenn ich es nicht jetzt tue – wann soll ich es tun?
  • Und wenn ich es nur für mich tue – was bin ich dann?

Warum diese Aussagen am Anfang einer Predigt stehen, welche eigentlich die Berufung der zwölf Apostel durch Jesus im Blick haben sollte? Ich sage es Ihnen gerne.

Jesus, so heißt es, hatte, als er die vielen Menschen sah, Mitleid mit ihnen. Denn sie waren müde und erschöpft und wie Schafe ohne Hirten. Angesichts dessen sagte er zu seinen Jüngern, dass sie darum bitten sollten, Arbeiter für die einzubringende Ernte auszusenden. Und dann berief er die unterschiedlichsten Männer mit dem Auftrag, das Himmelreich zu verkünden, Kranke zu heilen, Aussätzige rein zu machen und Dämonen auszutreiben.

Das galt damals – das gilt auch heute.

Heute geht bei Kirchenleuten, vor allem bei denen, die in höheren Positionen sind und Verantwortung für Strukturen, Finanzen, Weiterentwicklungen und die Zukunft des Glaubens haben, eine große Angst um. Diese Angst war schon vor CORONA da, der Virus hat sie nur geschürt und bedrohlicher werden lassen. Diese Angst heißt: Verlust an Kirchenmitgliedern, an Steuereinnahmen, an Einfluss, an Macht, überhaupt ein Zerbröckeln und Zerbröseln von Altbekanntem und Altbewährtem.

Auch der normale Katholik, der durch CORONA gezwungen war, lange Zeit keine Gottesdienste mehr besuchen zu können, bekommt langsam Geschmack an Fernsehübertragungen von solchen religiösen Feiern und geht vor Ort nicht mehr in seine Gemeinde. Die durch CORONA leer gewordenen Kirchen können auf Dauer leer bleiben und das macht wirklich Angst, auch mir…

Wenn ich aber auf die Anfänge der christlichen Bewegung schaue, wenn ich auf die Geisteshaltung Jesu sehe, dem – ganz im Geiste Hillels – der Mensch immer wichtiger war als das Gesetz, dann finde ich doch auch hier und jetzt viele Menschen, die müde sind und erschöpft, die von bösen Geistern geplagt, von Krankheiten gepeinigt sind oder sich unrein fühlen.

Diese Menschen suchen auch heute nach Mitmenschen, die ihnen weniger Gesetze oder Gebete vormurmeln, sondern sich nach Zeugen echter Nächstenliebe sehnen.

Religiöses Tun kann leicht und schnell zur Buchhalterei und Selbstgerechtigkeit verkommen, wenn das Herz des Ganzes fehlt: Menschen- und Gottesliebe.

Echter Glaube ist nie starres Regelwerk, das den Menschen überfordert. In der Nachfolge Jesu kommt es allein auf die Nächstenliebe an.

Es kommt darauf an, achtsam und g´spürig herauszufinden, wo genau die Nöte in meiner Umgebung hier und jetzt liegen. Wo kann ich dann konkret helfen mit einem Wort, einer Tat? Wo kann ich Streit schlichten, Tränen trocknen, Zeit und Zuwendung schenken? Wem kann ich hier und jetzt das Leben leichter machen?

Hier liegt der tiefere Sinn von Jesu Berufungen und hier ist auch der Kern der Logotherapie Viktor E. Frankls zu finden: „Das Leben fragt uns an. Und sich dieser je konkreten, wirklichen Frage zu stellen, macht Sinn, macht glücklich. Der Mensch erstrebt nicht das Glücklichsein-an-sich, sondern den Grund zum Glücklichsein.“

Jesus berief damals Simon Petrus, Andreas, Jakobus und die anderen der Zwölf, heute beruft er in angstmachenden und beunruhigenden Zeiten Dich und Mich, um das Reich Gottes weniger durch Wort, sondern mehr durch Tat zu verkünden.

  • Wenn nicht ich es tue – wer soll es tun?
  • Und wenn ich es nicht jetzt tue – wann soll ich es tun?
  • Und wenn ich es nur für mich tue – was bin ich dann?

Amen

 

Hier die Predigt von Pfarrer Christoph Kreitmeir im Audio-Format!