Foto: Christoph Müller, Wolfgang Thierse Berlin08, CC BY-SA 3.0

Wolfgang Thierse: „Es geht ohne Kirche, aber es geht nicht lange“

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Eine Studie der Bertelsmann Stiftung beschreibt aktuell den rasanten Bedeutungsverlust der Kirchen. Im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit (Ausgabe 52/2022) trafen sich die Pfarrerin Corinna Zisselsberger, der Jesuit Klaus Mertes und der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zu einem Generationengespräch über diesen aktuellen Befund, in dem Thierse mit eindringlichen Worten vor einem Wunsch nach schwachen Kirchen sowie einer Verachtung für das Erbe des Christentums warnte. Ein Überleben der Kirche sieht er sogar als wichtig für das Überleben der Demokratie.

Der neue Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung zeigt mit den Ergebnissen der großangelegten Untersuchung zur Religiosität in Deutschland eine massive Zuspitzung der Kirchenkrise in Deutschland verbunden mit einer Haltung, dass christlicher Glauben ohne Kirche möglich sei. Im Zeit-Interview gab Wolfgang Thierse dagegen zu bedenken:

„Es geht ohne Kirche, aber es geht nicht lange.“

Christ-Sein ist seiner Meinung nach eine Sache der Gemeinschaft. So heiße es im wichtigsten Gebet der Christen auch „Vaterunser, nicht Vatermein“. Den Bedeutungsverlust der Kirchen sieht er neben den eigenen Verfehlungen auch in einer „modischen Geringschätzung der Institutionen“ an sich. Thierse erinnerte daran, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes „größtenteils Christen“ waren und „ihre Überzeugungen in eine Sprache gefasst [haben], die niemanden ausschließt“. Daran könne man heute nicht einfach so vorbeigehen, mahnte der 79-jährige SPD-Politiker.

Er selbst habe aufgrund seiner Biographie „eine mildere Einstellung“ zur Kirche als andere, die heute der Kirche aufgrund ihrer Verfehlungen den Rücken zukehren. Seine Haltung begründet Thierse mit der Abwertung von Kirche, die er als Bürger in der ehemaligen DDR „von Kindesbeinen an“ erlebte, wo Kirche den Ruf erhielt „als eine kritisierte, beschimpfte, verteufelte Institution, die man gefälligst zu verlassen hat, wenn man ein intelligenter Mensch ist“. Schon in früher Kindheit sei er mit den Kreuzzügen der Kirche sowie „dumpfen oder feineren Angriffen“ gegen seine Kirchenzugehörigkeit konfrontiert gewesen. Auch mit Blick auf das selbst Erlebte, betonte Wolfgang Thierse mit Blick auf das Heute:

„Ich warne davor, sich schwache Kirchen zu wünschen.“

An anderer Stelle im Interview bezeichnete der ehemalige Bundestagspräsident es sogar als „dumm, Kirchen für verzichtbar zu halten“. Die Kritik von Menschen, die wenig oder nichts von der christlichen Prägung des Landes wissen, ärgere ihn. Dazu betonte er:

„Die Verachtung für das Erbe des Christentums und seine universalistische Idee ist geschichtsvergessen.“

Diese festzustellende Tatsache bezeichnet Thierse als „Jetzismus“, in dem er „eine ideelle und kulturelle Verarmung“ erkennt.

Von der Kirche fordert der 79-Jährige, dass sie Buße tut, zu ihrer Schuld steht und sich selbst reinigt. Dass ihm dann um die Zukunft der Kirche nicht bange ist, bringt Wolfgang Thierse mit einem Blick auf die Vergangenheit wie folgt zum Ausdruck:

„Dass es diese Kirche noch immer gibt trotz ihrer Vergehen, ihres Versagens und ihres Elends, das ist für mich der beste Beweis dafür, dass sie nicht einfach nur Menschenwerk ist.“

Quelle: Die Zeit 52 / 15.12.2022, Seite 66; zeit.de

Hinweis: Der renommierte Soziologe Hartmut Rosa, der Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt ist, hat aktuell im Kösel-Verlag ein neues Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Demokratie braucht Religion“. Mehr Infos dazu gibt’s

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