Pater Dr. Peter Uzor: „Jesus macht das Unbedeutende, Kleine groß“
In seiner Auslegung des heutigen Sonntagsevangeliums (Mk 9,30-37) beschreibt unser geistlicher Begleiter Pater Dr. Peter Uzor, warum Jesus in der beschriebenen Situation ein Kind in die Mitte seiner Jünger stellt. Mit Verweis auf die Sonntagslesung (Weish 2,1.12.17-20) zeigt er auf, wie tief das christlich-jüdische Menschenbild in unserer Gesellschaft verankert ist und Menschen hilft, mit den Unwägbarkeiten des Lebens positiv und lebensbejahend umzugehen.
Anbei die Worte seiner Predigt, die die Bedeutung des christlich-jüdischen Menschenbildes in unserer Gesellschaft nachempfinden lassen:
Worüber habt ihr unterwegs miteinander gesprochen? Mit dieser Frage überrascht Jesus seine Jünger nach ihrer Wanderung. Auf dem Weg hatte Jesus ihnen angekündigt, dass er bald sterben werde. Das Schicksal wird Jesus den letzten Platz zuweisen. Man wird Jesus als Verbrecher hinrichten. Ein unehrenhafter Tod. Indem er auch die Auferstehung ankündigt, will Jesus deutlich machen:
Das Leben ist nicht tot zu kriegen.
Man kann den Menschen physisch vernichten, man kann ihm Brot, die Liebe, ja, sogar Gemeinschaft entziehen, aber den Himmel kann man ihm nicht verschließen.
Worüber habt ihr unterwegs miteinander gesprochen? Das Schweigen der Jünger ist beredt: Sie haben darüber geredet, wer von ihnen der Größte ist. Unpassender geht es eigentlich nicht. Und doch ist es gleichzeitig so menschlich. Die Wirklichkeit des Lebens kann manchmal so schwer und bedrückend sein, dass wir ihr entkommen wollen. Lass uns doch über etwas anderes reden! Und: Wer ist besser, größer, bedeutender, mächtiger als die oder der andere, das ist etwas, das uns alle irgendwie beschäftigt. In unseren Begegnungen mit anderen Menschen schwingt das immer mit. Wie stehe ich da im Vergleich mit ihr oder ihm?
In einer Welt, die sich nach Kain-und-Abel-Manier über Konkurrenz und Neid definiert, wo nur der Erfolg zählt und der Unterlegene der Loser ist, soll deutlich werden, dass Gottes Verständnis vom Leben ein anderes ist. Deshalb stellt er in die Mitte seiner Jünger ein Kind.
Mit dem Blick auf dieses Kind sollen sie ihre Größenphantasien lassen, sollen sie ihr Machtgerangel aufgeben und das Vergleichen einstellen. Das kleine Kind gilt als Typ für menschliche Abhängigkeit. Es ist an Erzieher gebunden und auf andere angewiesen. Es wird geleitet und beschenkt; Vertrauen, Dank und Bitte sind deshalb seine Lebensgrundhaltung.
Das kleine Kind gilt aber auch als Symbol für innere Unabhängigkeit, für das Ursprüngliche und Echte.
Es ist noch nicht verdorben, innerlich verkrümmt und auch noch nicht darauf aus, sich zu profilieren; es ist noch sich selbst nahe, hat sich noch nicht verloren. Ja, es gibt Psychologen, die sagen: sie stehen noch mit einem Bein im Himmel und sehen die Welt ganz anders. Wenn in unseren Träumen das Kind auftaucht, so sagen uns die Fachleute, dann verkündet uns das eine frohe Botschaft: In uns wächst etwas Neues heran, neue Lebendigkeit; wir kommen mit dem unverfälschbaren Kern unseres Lebens in Berührung.
Das kleine Kind ist zuerst Gottes Geschöpf, noch nicht Produkt der Eltern oder der Gesellschaft.
Es ist noch dem Bilde nahe, das Gott von uns hatte, als er uns ins Leben rief, denn „er hat unser Innerstes geschaffen, uns gewoben im Schoß der Mutter“ (Ps 139,13).
Jesus setzt ein Zeichen, das auch menschlich anrührt.
Er holt ein Kind herbei und schließt dieses kleine, schutzbedürftige Wesen in seine Arme. Kinder hatten zur Zeit Jesu nicht viel zu melden. In der Gesellschaft standen sie auf dem letzten Platz.
Jesus macht das Unbedeutende, Kleine groß!
Das ist das genaue Gegenbild zu dem, was seine Jünger auf dem Weg gemacht haben. Sie haben über ihre eigene Größe und Bedeutung nachgedacht, vielleicht auch gestritten.
Das Kind steht dafür, dass wir existieren dürfen als gewollt und geliebt.
Wir sind nicht Zufallstreffer, Schicksalsschlag, Abfall- oder Endprodukt einer menschlichen Anstrengung; auch keine Randerscheinung, sondern zum Leben berufenes Geschöpf nach dem Abbild Gottes. Und dafür liebt uns Gott – nicht für das, was wir vorweisen, leisten oder fertig stellen.
Wir Menschen aber sind mit der Frage beschäftigt, wer wohl der Größte sei. Wir streben nach Macht und Größe, Ansehen, Berühmtheit … nach den ersten Plätzen und den höchsten Podesten. Auf diese Weise wollen wir uns selbst verwirklichen. Echte Selbstverwirklichung aber geschieht auf dem entgegengesetzten Weg: Wenn wir dem auf der Spur sind, was in uns als Gabe angelegt ist und als Schatz in der Tiefe zu heben ist, wenn wir immer besser in Kontakt kommen mit dem, was in uns wie eine Quelle angelegt ist und darauf wartet, dass es sprudeln kann, erst dann werden wir uns selbst verwirklichen, wird Wirklichkeit, was uns Gott mitgegeben und eingesenkt hat.
Damit verdeutlicht uns Jesus also eine andere Wertvorstellung – und die gilt auch dann, wenn Leid und Tod uns fast umbringen, uns aus der Bahn werfen oder gar vernichten.
Bei Gott gilt: Das Kind ist die unmittelbare Offenbarung der Liebe Gottes.
Jedes Kind bringt die Botschaft mit, dass Gott die Lust am Menschen nicht verloren hat und das Leben will.
Dieses Leben ist nicht totzukriegen, je mehr wir in uns das Kind bewahren oder wieder lebendig werden lassen … und je mehr wir in jedem Kind, ja in jedem Menschen, Gott selbst erkennen.
Mit diesem christlich-jüdischen Menschenbild können wir uns dem entgegenstellen, was uns täglich überrollt.
Die Lesung aus dem Buch der Weisheit (Weish 2,1.12.17-20) bezieht sich darauf. Dort wurde uns das ganz normale Leben, oder soll man sagen „der ganz normale Wahnsinn“ einer Gesellschaft im ägyptischen Alexandrien geschildert – gar nicht so weit entfernt von dem, was unsere Gesellschaft heute vorzeigt. Der Verfasser will der jüdischen Minderheit verdeutlichen, dass man sich nicht mit allen Mitteln der Ungerechtigkeit und der Gewalt zu den oberen Zehntausend hochdienen muss, damit das Leben Sinn, Inhalt und Fülle findet. Dass hingegen die Würde des Menschen, seine Einmaligkeit als Abbild Gottes, dem Leben Mehrwert verleiht. Aus dieser Haltung heraus kann Jesus nicht nur seine Jünger mahnen. Er kann auch sein eigenes Leiden und Sterben im andern Licht sehen – im Lichte Gottes. Und je mehr wir selbst das eigene Leben, aber auch das Leben eines jeden anderen so anschauen, umso mehr haben wir auch Anteil an der Gesinnung Jesu – und an seiner Auferstehung … schon im Hier und Jetzt.
Demonstrativ wendet sich Jesus den Menschen zu, die klein, an den Rand gedrängt, übersehen, missachtet, gemieden werden. Er erfüllt damit den Auftrag Gottes. Gott nimmt den letzten Platz ein, damit auch der „letzte“ Mensch Gottes Nähe spüren kann. Die Kirche, also wir, haben diesem Auftrag Gottes zu dienen und nicht uns selbst.
Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund, sagt der Volksmund. Worüber habt ihr unterwegs miteinander gesprochen? Jesu Frage hat etwas Unangenehmes, Unbehagliches auch für uns heute. Sie lädt ein nachdenklich zu werden und uns Gottes Auftrag wieder mehr oder neu zu Herzen zu nehmen.
Werdet wie die Kinder … spielfreudig und irrtumsfroh, anstatt ängstlich und risikolos, staunend und fragend, anstatt zu meinen, alles zu wissen, zu Gott aufschauend, anstatt auf die Menschen herabzusehen … damit die Kirche nicht zu erwachsen wird. Amen.