Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), Verleihung Ehrenring des Rheinlandes an Pfarrer Meurer-2921, CC BY-SA 4.0

Manfred Lütz: „Wenn lebendige Religion stirbt, bleibt nicht selten tote Moral übrig“

, ,

Der Psychiater, Bestsellerautor und Theologe Manfred Lütz, der von 1997 bis 2019 das Alexianer-Krankenhaus in Köln leitete, warnte in einem Kommentar in der Tageszeitung „Die Welt“, dass in einer ideologisch abgleitenden Klima-Debatte „die gleiche Würde aller Menschen schnell in Gefahr“ gerate. Ähnlich wie der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof hebt Manfred Lütz die Bedeutung des Christentums für den Begriff der Menschenwürde hervor.

Unter der Headline „Aus berechtigter Klima-Sorge kann eine Ideologie werden, die über Leichen geht“ analysiert der 69-Jährige Bestsellerautor (u.a. „Irre! Wir behandeln die Falschen“) sachlich die aktuelle Weltenlage und die damit verbundenen, berechtigten Sorgen so vieler Menschen. Dabei geht er der Frage nach, ob denn, wenn alles auf dem Spiel stehe, dann auch alles erlaubt sei. In diesem Kontext verweist Lütz auf den Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“), der für die Würde jedes Menschen und mit seiner Ewigkeitsklausel absolut gelte und „Mehrheitsentscheidungen entzogen“ sei.

Mit Blick auf Abwägungsgedanken, die im Gegensatz zu diesem absoluten Anspruch des Artikels 1 GG stehen, wie sie „der angelsächsische Utilitarismus“ oder das Werk „Terror“ von Ferdinand von Schirach in sich bergen, verweist Manfred Lütz auf den Philosophen Jürgen Habermas, der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet (wir berichteten). Dieser hatte bereits im Jahr 2002 „‚rettende Übersetzungen‘ der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen gefordert, um den Menschenwürdebegriff zu begründen“, betont Lütz in seinem Welt-Kommentar und interpretiert die Aussage Habermas‘ wie folgt weiter:

„Denn das Christentum, das die gleiche Würde jedes Menschen in die Menschheitsgeschichte eingeführt hat, scheint dieser Gesellschaft abhanden zu kommen.“

Dazu folgert Lütz:

„Wenn lebendige Religion aber stirbt, bleibt nicht selten tote Moral übrig, ein knöchernes Skelett unerbittlicher Prinzipien, die oft gnadenlos exekutiert werden.“

Als Beispiel hierfür sieht der renommierte Psychiater und Psychotherapeut das Handeln von Vertretern der letzten Generation, wenn diese bei aller „völlig berechtigten“ Sorge „ihre Auffassungen im Hochgefühl überlegener Moral“ predigen und dabei „mit ihrer ethischen Argumentation ganz im utilitaristischen Trend der Zeit“ liegen würden.

Mit Verweis auf „Menschheitserlösungsideologien“, die bereits in der Vergangenheit „irgendein höchstes Ziel proklamierten“, warnt Lütz, dass moralische Argumentationen „eine unerbittliche Logik entfalten [können], die die anfänglich gute Absicht in Horrorszenarien abgleiten lässt“.

In diesen Zeiten könne die Besinnung auf den Artikel 1 des Grundgesetzes helfen, „der auch dem irrenden, auch dem bösen, sogar dem verbrecherischen Menschen eine unverlierbare Würde zuschreibt, die keiner Menschheitsbeglückung oder Menschheitsrettung geopfert werden darf“.

In diesem Kontext hebt Lütz hervor, dass „diese überragende Bedeutung der Menschenwürde“ in der monotheistischen Religion begründet liegt, die „die gleiche Würde aller Menschen vor dem einen Gott proklamiert“.

Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof erklärte einmal, dass der Grundgedanke, dass jeder Mensch die gleiche Würde hat, aus Griechenland und aus dem Judentum komme, aber „im Christentum seine wesentliche Ausprägung erfahren“ habe (wir berichteten).

Auch Lütz erklärt in seinem Welt-Kommentar, dass das Christentum mit dem Gebot Jesu, den Feind zu lieben, zum Verständnis der Menschenwürde „die denkbar radikalsten Konsequenzen gezogen“ habe.

Das Gebot der Feindesliebe, das „völlig kontraintuitiv“ sei, gehöre „zur DNA des Christentums“ und habe „Auswirkungen bis in die Entstehung moderner Wissenschaft“, was Lütz mit der gängigen Methodik des Ringens um die Wahrheit an den christlichen Universitäten des Mittelalters darlegt. Darauf Bezug nehmend zeigt sich der renommierte Psychotherapeut gewiss, dass Klimadebatten mit dieser Grundhaltung, „substanzieller und fruchtbarer geführt werden und zu engagiertem Handeln ermutigen“ könnten. Dazu betont der 69-Jährige:

„In einer Situation lähmender Polarisierung und dramatischer Wissenschaftsskepsis brauchen wir zwar sicher nicht mehr Kirche, wohl aber vielleicht mehr Christentum.“

Quelle: welt.de