Winfried Kretschmann: „Der Sonntag ist ein Geschenk der Gläubigen an die ganze Gesellschaft“

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat in einem am Montag vorab veröffentlichten Interview mit der „Herder Korrespondenz“ (Novemberausgabe) die Bedeutung der Kirchen für unsere Gesellschaft hervorgehoben. Dabei betont der 73-jährige Katholik die Chance, die in der Ökumene liegt, und seine Hoffnung, dass es in der Kirche zu Reformen komme.

Ähnlich wie schon im Juli 2020, als Kretschmann gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) sich besorgt über den Mitgliederschwund der großen Kirchen und der damit verbundenen Gefahr einer Abkühlung der „sozialen Temperatur“ im Land äußerte (wir berichteten), verweist der Grünen-Politiker nun gegenüber der „Herder Korrespondenz“ auch auf die Rolle der Kirche in unserer Gesellschaft. So könne er sich „überhaupt nicht vorstellen, was es bedeuten würde, wenn dieser Glaube als solcher verschwindet“. Mit Blick auf Sprache und Kultur warnt er, dass etwas Zentrales aus der Kultur und auch aus „der Tiefenarchitektur unserer Gesellschaft“ verschwände, wenn man die Wurzeln unserer Gesellschaft kappe. In diesem Kontext hält der 73-Jährige nichts von „übertriebenen Pessimismus“ und verweist vielmehr optimistisch auf folgende Tatsache:

„In den gottfernsten Gegenden der Welt, etwa in Ostdeutschland oder in Tschechien, gibt es Christen.“

Abermals betont er, dass die Kirchen „ganz entscheidend mit für eine gute soziale Temperatur in diesem Land“ sorgen würden. Unabhängig von der Einstellung zum Glauben sollte seiner Meinung nach niemand ernsthaft diese gesellschaftliche Kraft missen wollen.

Als Beispiel führt Kretschmann den Sonntagsschutz an, von dem alle in der Gesellschaft profitieren. Dazu sagt er:

„Er [Der Sonntag] ist ein Geschenk der Gläubigen an die ganze Gesellschaft, dass alle zur Ruhe kommen können.“

So wie Kretschmann die gesellschaftsprägende Kraft der Kirche betont, so plädiert er auch für ein Beibehalten der Kirchensteuer. Auch wenn es „Laizisten“ gebe, „die sich über die Kirchensteuer aufregen, die sie selbst gar nicht bezahlen müssen“, haben wir seiner Ansicht nach im Land „aber wirklich andere Probleme, als uns an solchen Fragen abzuarbeiten“. Zudem erinnert Kretschmann:

„Wir haben eine Trennung von Staat und Kirche, beide agieren aber kooperativ, wir sind ein säkularer Staat, aber kein laizistischer Staat.“

Überdies hofft der 73-Jährige, der vor Jahren nach seinem Austritt bewusst wieder in die katholische Kirche eingetreten ist, dass es in der Kirche zu Reformen komme. Dabei betont der Katholik mit folgenden Worten die Notwendigkeit der Ökumene in diesem Prozess:

„Wenn es zur Einheit in versöhnter Verschiedenheit kommt, besteht die Chance, dass aus den drei großen Strömungen der Orthodoxie, des Protestantismus und der katholischen Kirche wirklich etwas entsteht, was neudeutsch Synergie heißt: dass es zusammen mehr ist, als jede einzelne Kirche einbringt.“

Dann könnte eine neue Kraft erwachsen und ein neues Gesicht des Christentums entstehen, ist sich Kretschmann gewiss.

Er selbst wolle sich aufgrund seines Alters nicht mehr direkt an der Reformbewegung beteiligen und wird demzufolge auch für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) nicht mehr zur Verfügung stehen. Dazu sagt er:

„Ich bin für diese Kämpfe einfach zu alt, ganz platt gesagt. Ich habe in diesen Fragen so viel gekämpft und bin müde geworden. Das müssen Jüngere machen.“

Vielmehr wolle er sich künftig, mehr mit der Gottesfrage beschäftigen, „die letztlich viel wichtiger ist“, so Kretschmann.

 

Dass der christliche Glaube einen hohen Stellenwert in seinem Leben hat, bringt Winfried Kretschmann auf Nachfrage in Interviews ganz selbstverständlich zum Ausdruck. So bekannte er etwa im Dezember 2012 im Magazin Bunte:

„Der Glaube ist mir wichtig. Er ist etwas, was mich befreit. Ich weiß, als Politiker kann ich immer scheitern. (…) Ich habe Rückhalt in Gott und in meiner Familie. Dadurch kann ich meine Aufgaben als Ministerpräsident mit Gelassenheit angehen.“

Kretschmann war vor Jahren nach einer Zeit der Abstinenz ganz bewusst wieder in die katholische Kirche eingetreten. Zu seinem Verständnis von Kirche erklärte er einmal im Interview mit dem Journalisten Hanno Gerwin:

„Ich glaube, ohne Kirche kann man kein Christ sein. Das Christentum ist eine Gemeinschaftsreligion, eine soziale Religion. Jesus ja, Kirche nein – das halte ich für einen blöden Spruch. Christ ist man in einer Gemeinschaft, das geht anders nicht.“

Im April 2019 machte Kretschmann auf die Bedeutung dieser Gemeinschaft für Europa aufmerksam. Bei einem überkonfessionellen Gottesdienst der katholischen Gemeinschaft Immanuel in Ravensburg sprach er zum Thema „Europa – eine noch christlich geprägte Gemeinschaft?“. Dabei wies der Grünen-Politiker darauf hin, dass Europa nach wie vor von einem reichen christlichen Erbe geprägt sei. So hätten das Christentum und allen voran die Klöster die europäische Kultur, Wissenschaft und Bildung hervorgebracht. Tragende Säulen der europäischen Gemeinschaft basierten auf christlichen Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Religionsfreiheit, Toleranz und den Menschenrechten. Biblische Geschichten wie den „barmherzigen Samariter“ verstünden alle, auch wenn sie selber keine Christen seien. Demzufolge resümierte Kretschmann:

„Europa ist zutiefst durchtränkt und imprägniert von christlichen Überzeugungen.“

Quellen: herder.de, katholisch.de, bild.de, catholicnewsagency.com, evangelisch.de, gerwintrifft.de, idea.de