Pater Peter Uzor: „Ich sehe im Kreuz Opfer und Täter, damals und jetzt“

Karfreitag ist der Tag, der Menschen auf der ganzen Welt an die Leidenszeit und den Tod Jesu erinnert. Seine Auslegung der Lesung (Jes 52,13 – 53,12) und des Evangeliums (Joh 18,1 – 19,42)  am Karfreitag stellt unser geistlicher Begleiter Dr. Pater Peter Uzor unter den Titel „Dreimal Hinsehen“ und beschreibt dabei die Bedeutung des Kreuzes mit einem dritten, vertieftem Blick.

 

Anbei die Worte von Pater Peter zum Karfreitag 2022:

 

Schön ist das nicht. Kein Hingucker. „Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten.“ – „Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt“, sah er aus (Jes 53,2f.); einer, bei dem man wegguckt. Keiner sieht richtig hin. Hannas sieht weg (Joh 18,12-24). Er sieht einfach drüber weg. Kajaphas sieht weg. Er hat wohl keine Zeit (Joh 18,28). Und Pilatus? Sieht mehr auf sich (Joh 18,28-19.16a). Jene, die wegsehen, sind feige. Jene, die sich das ansehen, sind abgebrüht: Soldaten, an rohe Gewalt gewöhnt, mit scharfem Schwert und abgestumpftem Sinn. Die sich das ansehen, sind einige Schau-Lustige: Halbstarke, die sich Jesus zurechtmachen, wie sie ihn sehen wollen. Als eine Witzfigur mit Dornenkranz und einem roten Mantel.

Die einzigen die wirklich hinsehen und den Anblick ertragen sind drei Frauen: seine Mutter, Maria Klopas, Maria von Magdala (Joh 19,25f.).

Sie sehen hin.

Was sehen wir, wenn wir aufs Kreuz schauen? Vielleicht haben wir uns schon zu sehr daran gewöhnt. Wir kennen das schon. Aber wenn wir mit Kindern in einer Kirche sind und die Kleinen dann fragen: „Was macht der Mann da?“, oder wenn wir mit Menschen anderen Glaubens auf das Kreuz zu sprechen kommen, dann kommen wir in peinliche Erklärungsnot. Was sehen wir da?

Beim ersten Hinsehen sehe ich eine Hinrichtung. Gewalt, Blut. Ja, hier stirbt gerade jemand. Hier wird ein Mensch zu Tode gebracht. Nach Cicero ist die Kreuzigung die grausamste und fürchterlichste Todesstrafe, die eines römischen Bürgers nicht würdig ist.

Jesus von Nazaret, ein Opfer der Justiz, der Mächtigen, des Hasses.

Aus der Sicht derer, die ihn hingerichtet haben, soll die Kreuzigung diese Bedeutung haben: keine! Der hier hat keine Bedeutung! Er ist nicht der Messias. Er ist nicht der König der Juden. Er hat Gott gelästert und Unruhe gebracht. Beim ersten Hinsehen sehe ich einen gescheiterten Mann; verurteilt zum Tod und zur Bedeutungslosigkeit. Ein großer Mensch, dessen Ideale gerade zusammenschrumpfen. Es musste so kommen – „der Gerechte muss viel leiden“, so sagt es schon Jesaja. Sein Leben und sein Leiden waren vergebene Liebesmüh.

Der erste Blick ist und bleibt schrecklich.

Aber es lohnt sich noch einmal, ein zweites Mal hinzuschauen. Und es lohnt sich, einmal versuchsweise die Brille des Evangelisten Johannes zu probieren. Am Ende, wenn alles vorbei ist, sagt er: „Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt.“ (Joh 19,35)

Was sieht der Evangelist, was ich nicht sehe?

Dass es sich auch hier noch lohnt, gewaltlos zu bleiben; dass auch jetzt, gerade jetzt, Jesus nachzufolgen möglich ist. Der Weg Jesu führt konsequent in diesen Hinrichtungstod und durch den Tod: als Sterben für die Seinen, für uns – so sagen wir theologisch und versuchen ein Leben lang zu verinnerlichen, was das heißt.

Das Kreuz: nicht vergebliche Liebesmüh, sondern sich vergebende Liebesmüh.

Das ist die Sehhilfe des Evangelisten: Sie werden noch mit einem anderen Blick „auf den blicken, den sie durchbohrt haben“ (Joh 19,37).

Und wenn ich die Augen noch einmal für einen Moment schließe und dann ein drittes Mal aufs Kreuz schaue, dann fällt mir der Satz des Pilatus ein: „Seht, da ist der Mensch“ (Joh 19,5). Seht da, was Menschen zu tun imstande sind! Und seht, was Menschen ertragen! Dann beginnen sich die Bilder zu überlagen. Dann tauchen andere Gesichter und Geschichten auf.

Dann sehe ich im Kreuz Opfer und Täter, damals und jetzt.

Ich sehe auf einmal Menschen, denen das Hochwasser ihr Zuhause genommen und Menschen, denen die Pandemie das Leben gekostet hat. Ich sehe zerstörte Häuser und verstorbene Menschen auf den Boden in Ukraine. Ich sehe so viele Menschen auf der Flucht wegen Krieg in Europa. Ich sehe Eltern, die ein Kind während der Schwangerschaft verloren haben. Ich sehe eine Frau „im besten Alter“, die an Depressionen leidet. Ich sehe einen erschöpften Mann, der weiß, dass er sterben wird, und der deshalb beschlossen hat, keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen. Und ich sehe seine Familie.

Ich sehe, wenn ich auf das Kreuz Jesu schaue, unsere Verletzlichkeit. Ich sehe, was Menschen aushalten müssen. Und was sie sich zu allem Übel noch gegenseitig antun.

Seht, da ist der Mensch. Seht wie klein er ist und wozu er fähig ist, was er mitunter tragen muss und auch zu tragen vermag. Vielleicht kommen da auch bei Ihnen Bilder, Menschen, Gesichter in den Sinn, die sich über das Kreuz legen. Es ist nur allzu verständlich, wegschauen zu wollen, die Leiden, das Sterben und den Tod zu verdrängen, zu verhüllen. Denn schön ist das nicht. Aber brutal ehrlich.

Die Liturgie des Karfreitags ritualisiert das Hingucken.

Es darf, es muss behutsam hingeschaut werden. Deswegen steht das Kreuz im Zentrum dieser Feier. Nach den Große Fürbitten, wo wir die ganze Welt in der Todesstunde Jesu vor Gott bringen, werden wir ein Kreuz enthüllen. Nicht auf einmal, sondern in drei Schritten. Es ist ein langsames Offenlegen, ein dreifaches Hinschauen. Wenn wir das Kreuz Jesu enthüllen, dann enthüllen wir all die Verletzungen, all die Grausamkeiten und Zerstörungen, die Menschen sehen, erleiden und einander antun. Während dieser Enthüllung wird dann der gregorianische Vers gesungen: „Ecce lignum crucis …“ – „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen.“ Seht das Holz, an dem das Unheil der Welt sich zeigt und an dem das Heil der Welt hängt.

Wer darüber hinwegschaut, landet nicht auf dem Boden der Realität; wer daran vorbeisieht, liegt daneben; wer nur kurz draufblickt, bleibt im Schrecken hängen.

Wenn wir mehrmals aufs Kreuz schauen, wie wir es jetzt getan haben, vermischen sich Schrecken und Hoffnung, Unheil und Heil.

Was auf den ersten Blick brutal erscheint, lässt doch hoffen. Was auf den ersten Blick weh tut, kann doch – wenn wir weiterschauen – leichter werden. Wer mit anderen Augen draufsieht, wie der Evangelist, ahnt vielleicht schon etwas von Heilung und Auferstehung.

Wenn Sie möchten, dürfen Sie nachher nach vorne kommen; sich das ansehen, sich vielleicht vor dem Kreuz verneigen; vor dem Kreuz, an dem sich Unheil und Heil der Welt so sehr verdichten; vor dem Kreuz, an dem das ganze Unheil sichtbar wird – und an dem das Heil hängt. Amen.

Anbei der Song „Fürchte dich nicht“ von Samuel Harfst, der die Worte von Pater Peter schön nachklingen lässt: