Paul Kirchhof: „Die Verantwortung vor Gott und den Menschen muss wieder gestärkt werden“
„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
So lautet die Präambel des Grundgesetzes, dessen 75-jähriges Jubiläum dieser Tage mit einem Fest der Demokratie in Berlin und Bonn gefeiert wird.
Den Verfassungsmüttern und -vätern war die Aufnahme des Gottesbezugs in das Grundgesetz als Reaktion auf die totalitäre Herrschaft der Nationalsozialisten wichtig. Sie wollten die Abkehr von totalitären Staatsformen, die die staatliche Macht als „absolut“ betrachten und als Selbstzweck begreifen, unterstreichen, was durch die Bezugnahme auf etwas „Höheres“, das über dem Staat und den Menschen steht, erreicht werden sollte (Anmerkung: Mehr dazu siehe HIER).
Die Verfassungsväter und -mütter hatten dabei das Gottes- und Menschenbild vor Augen, nach dem wir unsere Zeit rechnen. So erklärte etwa der deutsche Philosoph und Autor Josef Brodat in einem Interview mit domradio.de vom 23. Mai 2019:
„Der Gottesbezug hat natürlich eine christliche Konnotation. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren zum großen Teil Christen und haben sich eben den christlichen Gott vorgestellt. Es ist aber ein offener Gottesbegriff.“
Der deutsche Verfassungs- und Steuerrechtler Prof. Paul Kirchhof, der an der Universität Heidelberg einen Lehrstuhl für Staats- und Steuerrecht innehatte und von 1987 bis 1999 Bundesverfassungsrichter war, betont seit Jahren die Rolle des christlichen Glaubens in der Verfassung und warum es so wichtig ist, die Wurzeln der Verfassung zu hegen und zu pflegen (wir berichteten).
Der heute 81-Jährige hat die Rechtssprechung in Deutschland nachhaltig beeinflusst. Im Jahr 2018 wurde er von der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft mit der Carl-Friedrich-Gauß-Medaille ausgezeichnet, mit der er unter anderem für seine Verdienste auf den Gebieten des Staats-, Verfassungs- und Europarechts gewürdigt wurde.
Bereits im Jahr 2009 erklärte Paul Kirchhof im Rahmen des damaligen Volksbegehrens zum Religionsunterricht in Berlin:
„Der christliche Glaube ist eine unabdingbare Voraussetzung unseres Grundgesetzes.“
Weiter betonte Kirchhof mit Blick auf das Grundgesetz:
„Die Annahme der Menschenwürde gründet sich auf der christlichen Überzeugung, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist.“
Zugleich warnte er vorausschauend:
„Wehe dem, der Ethos und Religion aus der Gesellschaft herausdrängt. Das Fundament unserer Verfassung würde verkümmern.“
Immer wieder unterstreicht Paul Kirchhof in Vorträgen und Interviews die hohe Bedeutung des christlichen Glaubens für unser freiheitliches Leben. Im Gespräch mit Radio Vatikan sagte er einmal:
„Ich glaube, gerade in unserer Gegenwart, in der die Kulturen aufeinanderprallen, in der wir das Problem eines weltweiten Terrorismus haben, in der die Weltoffenheit der Märkte die unterschiedliche Verteilung der Güter bewusst macht, zeigt sich dieser Glaube als die Antwort auf unsere Zukunft. Der Grundgedanke – dass jeder Mensch die gleiche Würde hat – kommt aus Griechenland und aus dem Judentum; er hat aber im Christentum seine wesentliche Ausprägung erfahren.“
Weiter erläuterte Paul Kirchhof, der als Richter des Bundesverfassungsgerichts an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt hat:
„Der Mensch ist Ebenbild Gottes, Gott ist Mensch geworden. Das ist ein nahezu revolutionärer Gedanke. Das heißt: Jeder Mensch kann diesem Gott eine Heimat geben! Das ist ja ein radikaler Gleichheits- und Freiheitssatz, wie es ihn in der Rechtsgeschichte als solchen noch nie gegeben hat. Und er ist gegenwärtig, wo wir in der Offenheit der Welt die Verschiedenheit der Menschen, aber auch der Völker, der Gruppen, der Kulturen empfinden, aktueller denn je.“
Im Jahr 2023 veröffentlichte Paul Kirchhof das Buch „Religion und Glaube als Grundlage einer freien Gesellschaft“ (Herder-Verlag). Darin stellt er fest, dass der Wille zur Freiheit ermüde, der Zusammenhalt der Gesellschaft in Krisen kaum noch standhalte und die demokratische Legitimation ins Formale zu verkümmern drohe. Mit Blick auf diesen gegenwärtigen Zustand schlussfolgert Kirchhof:
„Deshalb muss eine Kultur des Wissens und Gewissens gegenwartsgerecht entwickelt, die Verantwortung vor Gott und den Menschen, das religiöse Bewusstsein und Gottvertrauen wieder gestärkt werden.“
Paul Kirchhof, der als Richter des Bundesverfassungsgerichts an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt hat, weist in dieser Situation die in einer freiheitlichen Verfassung angelegten Wege, den Menschen religionsmündig zu machen, den säkularen Staat zur Pflege der Religion als einer Wurzel seiner Verfassung und einem Inhalt von Freiheit zu beauftragen, und die Kirchen als Botschafter des Glaubens für alle Menschen zu erneuern.
Hinweis: Einen lesenswerten Artikel mit dem Thema „Wie Gott ins Grundgesetz kam“ gibt es unter: