Winfried Kretschmann: „Gott sei Dank strahlt die Nächstenliebe seit Jahrhunderten auf die ganze Gesellschaft aus“

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In der TV-Sendung „Zur Sache Baden-Württemberg“, die im öffentlich-rechtlichen SWR läuft, ging es am 12. Januar unter dem Thema „Kirche raus aus dem Staat?“ mal wieder um die Missstände in der Kirche, die Kirchenaustritte und um die Frage, ob die Privilegien der Kirchen noch zeitgemäß sind. Gegenüber einem Moderator, der immer wieder eindringlich die Missstände hervorhob, und zwei zugeschalteten Online-Teilnehmern, die sich kirchenkritisch zeigten, gab Studiogast Winfried Kretschmann, der der amtierende Ministerpräsident von Baden-Württemberg und gläubiger Katholik ist, auf dem heißen Stuhl eine sehr gute und differenzierte Figur ab. Als am Ende der Sendung Rechtsanwältin Sandra Forkert-Hosser zugeschaltet wurde, schien sich mit ihrem Statement der Geist im Studio etwas zu drehen.

Moderator Florian Weber stellte Winfried Kretschmann als Menschen vor, dessen Leben von der katholischen Kirche geprägt und für den der Glaube an Gott ein großes Thema ist. In der Sendung wurde darüber informiert, dass Kretschmann katholisch erzogen wurde und in seiner Heimat oberster Messdiener mit dem Berufsziel Pfarrer war. Nach schlechten Erfahrungen in einem strengen katholischen Internat habe er dieses Berufsziel aufgegeben. Als Student trat er aus der Kirche aus, später erfolgte der Wiedereintritt. Heute engagiert er sich aktiv in verschiedenen Kirchenorganisationen.

Auf die Eingangsfrage, wann er zuletzt in der Kirche gewesen sei, gab der 74-Jährige zur Auskunft, dass er am vergangenen Sonntag im Gottesdienst war. Dass mittlerweile nur noch 48 % der deutschen Bevölkerung einer Kirche angehören, treffe ihn sehr. Mit Blick auf jene, die nicht mehr kirchlich gebunden sind und diese Entwicklung als erfreulich empfinden, gab Kretschmann zu bedenken:

„Das Christentum prägt Europa seit über 2000 Jahren.“

Es gehöre zur „Seele Europas“. Wenn der Prozess der Entkirchlichung so weitergehe, könne „da leicht etwas wegbrechen“, warnte der Grünen-Politiker. Als Katholik besorge ihn dieser Prozess „erst recht“, was er wie folgt weiter erklärte:

„Ich gehöre ja dieser Glaubensgemeinschaft an und da besorgt es einen natürlich, wenn es immer weniger Menschen werden.“

Auch mit Blick auf die Gesellschaft wird ihm bange, wenn Kirche geht und keine adäquate säkulare Bewegung folgt, wenn er schildert, dass „vieles, was die Kirche einfach tut für die Menschheit“ von hohem Wert für eine intakte Gesellschaft ist. Dazu betonte er:

„Nächstenliebe ist ja sozusagen die Grundauffassung der Christen.“

Wenn dieses Handeln aus der Liebe zu Gott heraus einmal fehlt, „dann kann das schon auch große Auswirkung auf die Gesellschaft haben“, schlussfolgerte der Politiker.

Kretschmann schilderte, dass er selbst in einem katholischen Internat Missstände erlebte. Als Student habe er dann „diese linken revolutionären Studentenorganisationen“ kennengelernt, die ihn faszinierten und zugleich von der Kirche entfernten. Infolgedessen trat er seinerzeit aus der Kirche aus. Später sei er dann wieder eingetreten. Auf Nachfrage erklärte er:

„Letztlich hat mir die Kirche selber gefehlt.“

Überdies habe ihm neben der Glaubensgemeinschaft mit ihren Gottesdiensten, Liedern, Riten, Predigten und gemeinschaftlichem Singen und Sein der christliche Glaube an sich gefehlt. Der „tiefste Grund“ einer Kirche anzugehören, sei die Gottesverehrung.

Den Missbrauch innerhalb der Kirche, der dazu führte, das Menschen aus der Glaubensgemeinschaft austraten, bezeichnete Winfried Kretschmann klar und ohne Umschweife als „Verrat am Evangelium“. Danach gefragt, wie er mit dem Missbrauch umgehe und da noch Kirchenmitglied sein könne, erklärte der 74-Jährige, dass zum aktuellen Zeitpunkt eine „Reinigung“ in der katholischen Kirche stattfindet. Wörtlich sagte er:

„Die Kirche muss sich reinigen vom Missbrauch und sie reinigt sich gerade. Im Großen und Ganzen macht sie das richtig.“

Auf die erstaunte Rückfrage des Moderators, ob er gerade richtig gehört habe, lobte Kretschmann mehrere Bischöfe für ihre Arbeit:

„Die meisten Bischöfe machen das sehr sehr sorgfältig und mit großem Engagement.“

Als Beispiel nannte er den Bischof von Mainz, der das „mit großem Ernst“ mache und „großer Konsequenz, dieses Übel zu beseitigen und es aufzuklären, dazu zu stehen zu diesen Verfehlungen und diese Kirche zu reinigen von diesem Übel“.

Moderator Weber warf daraufhin der Kirche „Salami-Taktik“ vor und stellte die These auf, dass die Kirche sich nicht von sich heraus reinige, sondern auf Druck von außen. Es höre sich für ihn merkwürdig an, wenn Kretschmann davon spreche, dass sich die Kirchen reinigen. Kretschmann belegte seine Sichtweise daraufhin mit einem konkreten Beispiel und verwies auf den Bischof von Rottenburg, der die Missstände in seinem Verantwortungsbereich „von Anfang an vorbildlich aufgearbeitet“ habe. Eine andere Darstellung wäre ihm gegenüber „einfach ganz ungerecht“, betonte Kretschmann und verwies darauf, dass die Aufklärung und Aufarbeitung der Fälle, die bis ins Jahr 1949 zurückreichen, mit der dafür notwendigen Sorgfalt erfolgen müsse, was eben auch eine gewisse Zeit in Anspruch nähme. Ausdrücklich betonte der Grünen-Politiker, dass er das Geschehene nicht verteidigen wolle und es vielmehr „abscheulich“ finde.

Als in einem anschließendem Beitrag der Kirchenaustritt von Seelsorger Andreas Sturm, der der ehemalige Generalvikar des römisch-katholischen Bistums Speyer war, thematisiert wurde, verwies Winfried Kretschmann darauf, dass Andreas Sturm ja „nicht einfach ausgetreten“ sei, sondern „in eine andere Kirche“ übergetreten sei. Sturm arbeitet heute als  Seelsorger des katholischen Bistums der Alt-Katholiken in Deutschland.

Im Zuge dessen schilderte Kretschmann, dass ein genereller Austritt etwas anderes ist und tiefere Gründe habe, als das Problem mit kirchenspezifischen Regelungen. Auch diese Sichtweise erklärte er wiederum mit dem Beispiel, dass Menschen, die sich daran stören, dass die katholische Kirche keine Frauen zu Priestern weiht, auch in die evangelische Kirche eintreten könnten, wo sie dann „ein genauso guter Christ“ seien. Dazu sagte er weiter:

„Man muss nicht einfach austreten, man kann auch in eine andere Konfession übertreten. Dann bewahrt man das, worum es geht, nämlich Gott zu lieben und die Mitmenschen wie sich selbst. Das ist ja unser Hauptgebot.“

Jetzt wo die Sendung einen spannenden Punkt erreichte, unterbrach Moderator Weber seinen Studiogast und ließ sichtlich erkennen, dass er mit diesen Worten wenig anzufangen wusste. Vielmehr machte er nun den Umgang der katholischen Kirche mit Frauen zum Thema.

Nachdem eine Dame zugeschaltet wurde, die sich an der Position von Frauen in der Kirche störte und weiter berichtete, dass sie auch ihren Glauben verloren hat, verwies Winfried Kretschmann daraufhin auf sein zuvor geschildertes Argument. Zunächst betonte er aber, um nicht falsch verstanden zu werden, dass er „ein überzeugter Vertreter“ des Frauenpriestertums sei. Aber wie eben durch die zugeschaltete Dame zu sehen gewesen war, seien der tiefste Grund eines Austritts nicht kirchenpolitische Dinge, sondern dass Menschen ihren Glauben an Gott verlieren. Dies sei der tiefste Grund für einen Austritt, weil sonst ja Alternativen da wären.

Genauso wie es in der Kirche immer Verfehlungen gegeben habe, habe es auch in der Menschheitsgeschichte immer Verfehlungen gegeben, die mit Blick auf unsere deutsche Geschichte mitunter grausam waren wie etwa in der Zeit des Nationalsozialismus. Wie in der Menschheitsgemeinschaft, aus der der Mensch nicht austreten könne, gelte es auch in der Glaubensgemeinschaft die verfehlten Entwicklungen zu ändern und neu zu gestalten.

Als der Moderator erneut mit weiterer Kritik fortführen wollte, bat Winfried Kretschmann, um einen kleinen „Einwurf“, um damit ein differenzierteres Gespräch zu eröffnen. Dazu sagte er:

„Schauen Sie doch mal in die nächste Kirchengemeinde, egal ob evangelisch oder katholisch. Dann werden sie an dem, was die Menschen vor Ort tun, keine Kritik verlieren. Die setzten sich für Alte ein, für Schwache ein. Die kümmern sich um Einsame. Die setzen sich für unser Leben ein. Die tun Tag und Nacht Gutes. In diese Ecke sollten wir schon auch gucken und nicht nur auf irgendwelche Kirchenoberen zeigen, die dafür verantwortlich sind, dass es leider nicht so läuft wie wir es gerne hätten.“

Danach ging es zum nächsten Thema, dem Verhältnis von Kirche und Staat verbunden mit der Frage, wieviel Kirche bei uns im Staat steckt und wieviel Geld die Kirche bekommt. Moderator Weber betonte den Anlauf, der aktuell zur Ablösung der Staatsleistung an die Kirchen genommen wird. Dabei hob er hervor, dass unter den Anlaufnehmenden einige konfessionslose Regierungsverantwortliche sind, und betonte weiter: „Wir haben das erste mal einen Bundeskanzler, der keiner Amtskirche mehr angehört. Er ist ausgetreten – Herr Scholz.“

 

Dass auch Bundeskanzler Scholz und alle anderen aus der Kirche Ausgetretenen von der Kirche in der Gesellschaft sowie von dem Handeln christlicher Menschen profitieren, wenn sie zum Beispiel bei einer unheilbaren Krankheit die Anwesenheit des Krankenhausseelsorgers als wohltuend empfinden, brachte die zum Abschluss online zugeschaltete Rechtsanwältin Sandra Forkert-Hosser zum Ausdruck. Die evangelische Christin, die den Wert der gesellschaftstragenden Verbindung unseres Staates mit den Kirchen hervorhob, gab zu bedenken:

„Ich finde mich in der Situation wieder und zurecht, weil ich der Meinung bin, dass die Menschen, die in der Kirche arbeiten, für unsere Gesellschaft sehr viel Wichtiges tun, wie es von Herrn Kretschmann schon genannt worden ist. Die Seelsorge ist etwas, das ich als etwas sehr Wichtiges bei meiner täglichen Arbeit erlebe. Zum Beispiel die Seelsorge in Haftanstalten, die dort von der Kirche übernommen wird, ist eine große Säule für die Menschen dort. Auch der Betrieb eines Kindergartens oder von Krankenhäusern und die ganzen Sachen, die von Menschen aus der Kirche gemacht werden, vermitteln eine Säule unseres Gemeinschaftslebens. Für mich ist die Zahlung meiner Kirchensteuer etwas, mit dem ich das Gefühl habe: Ich unterstütze auch die Werte, die uns zusammenhalten. Ich bin dann bereit, die Kirchensteuer dafür zu leisten, weil ich glaube, dass diese Werte so wertvoll sind, dass sie weiter bestehen bleiben sollten und unser gemeinsames Leben bestimmen dürfen.“

 

Nach diesem Statement kehrte spürbar ein anderer Geist in die Sendung ein. Der Moderator verwies nun auf den Religionsmonitor von der Bertelsmann-Stiftung, der aussagt, dass nicht der Glaube an sich in der Gesellschaft verloren gehe und es in Deutschland bei vielen Menschen nach wie vor ein großes Bedürfnis nach Glauben gebe. Daraufhin betonte Winfried Kretschmann:

„Die Kirche ist für die Welt da, sie ist Sauerteig, so heißt es in der Schrift. Und Gott sei Dank strahlt diese Nächstenliebe seit Jahrhunderten auf die ganze Gesellschaft aus.“

Wenn er auf das aktuelle Engagement in der Gesellschaft für andere blicke, seien wir „so christlich wie noch nie“, worüber wir uns freuen sollten. Ich ärgere mich nicht, wenn das im säkularen Gewand daherkommt, so der baden-württembergische Ministerpräsident.

Bleibt zu hoffen, dass die Nächstenliebe ohne Gottesbezug ähnlich stark und nachhaltig daherkommt wie die Nächstenliebe mit Gottesbezug.

Quelle: ardmediathek.de