Ehemalige Bundestagspräsidenten warnen vor einer Gesellschaft ohne Gott

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Aktuell erschien das Buch „Hat die Rede von Gott noch Zukunft?“ (Echter Verlag), in dem 111 Personen aus allen Bereichen der Gesellschaft auf diese eine Frage Antwort geben. Darin bringen die ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, der dieses Amt von 1998 – 2005 innehatte, und Norbert Lammert, der von 2005 – 2017 Bundestagspräsident war, zum Ausdruck, dass die Rede von Gott von größter Bedeutung für Demokratie und Freiheit unserer Gesellschaft ist.

Wie domradio.de berichtet, sei für Norbert Lammert die Vorstellung von einer Gesellschaft ohne Religion gruselig, insbesondere deshalb, weil seiner Ansicht nach Religion der gesellschaftlichen Selbsterhaltung diene. Der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft werde durch ihre gemeinsamen Erfahrungen, Orientierungen und Überzeugungen gestiftet, weshalb auch das Grundgesetz der Bundesrepublik ein „tiefreligiös geprägter Text“ sei, argumentiert der 76-Jährige im Buch „Hat die Rede von Gott noch Zukunft?“. Lammert begründet seine These, indem er auf die Präambel des Grundgesetzes verweist, die das „Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ hervorhebt, aus dem heraus das Grundgesetz sich legitimiert. Von der Präambel über den Katalog der Grundrechte handle es sich um einen hoch ideologischen Text „mit einer Reihe normativer Ansprüche für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft“, führt der CDU-Politiker weiter aus.

Dass Religion der gesellschaftlichen Selbsterhaltung diene, zeigt nach Ansicht Lammerts auch ein Blick auf weltweit „viele eindrucksvolle, in der Regel eher abschreckende Beispiele dafür, dass die demonstrative Absage an religiöse Orientierungen eine Gesellschaft weder moderner noch humaner“ mache.

Säkularistischen Tendenzen, denen zufolge Religion reine Privatsache sein sollte, erteilt Lammert in seinen Ausführungen im Buch „Hat die Rede von Gott noch Zukunft?“ eine klare Absage. So müsse seiner Meinung nach Religion mehr als eine Privatsache sein. Dazu betont er, dass Religion „nach allen historischen Erfahrungen, die wir und andere Gesellschaften gemacht haben“, immer mehr als eine Privatangelegenheit gewesen sei.

 

 

Auch Lammerts Vorgänger im Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, hebt auf die Frage „Hat die Rede von Gott noch Zukunft?“ den grundsätzlichen Wert von Religion für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft hervor. Mit Blick auf eigene Erfahrungen als Bürger der ehemaligen DDR warnte Thierse schon in dre Vergangenheit vor einem Zurückdrängen der Religion.

Wie domradio.de berichtet, erklärt Wolfgang Thierse in diesem Buch, dass gefährlichen Ideologien der Weg bereitet wird, wenn der Mensch sich selbst als das Größte begreift. Der 81-Jährige, der Gott als „unauslöschbare Frage“ für die Gesellschaft sieht, warnt vor einer Welt, in der Gott keine Rolle mehr spielt. Dies wäre eine Welt, in der Menschen Erfahrungen nicht mehr machten, die über ihr Selbst hinausweisen. So eine Welt ohne Gott wäre „die Welt des Übermenschen Nietzsches (oder Himmlers oder Stalins oder Pol Pots …)“, schreibt Thierse im Buch „Hat die Rede von Gott noch Zukunft?“ (Echter Verlag).

Zudem erklärt der SPD-Politiker, der langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ist, dass Christen von Gott nur anhand dessen reden könnten, was die Bibel von ihm berichtet: „Nichts Neues und immer neu.“

 

Bereits im Mai 2020 erklärte Wolfgang Thierse in einem Beitrag im Portal „feinschwarz.net“, das sich als theologisches Feuilleton charakterisiert und im Oktober 2015 online ging, dass eine demokratische Gesellschaft den Glauben als Quelle von Widerspruch sowie eines guten und gelingenden Lebens braucht.

Wie katholisch.at dazu berichtet, verwies der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages darauf, dass Widerspruch und Widerstand der Motor einer demokratischen Gesellschaft sind. Glaube und Religion seien und blieben als Quellen von Widerspruch und Widerstand von hoher gesellschaftlicher Relevanz, so Thierse. Seine These begründete er damit, dass die Quelle dieser religiösen Widerständigkeit und des „störrischen Sinnes“, der Religion eingeschrieben ist, die christliche Überzeugung von der Geschöpflichkeit von Natur und Mensch sowie von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sei.

Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof erklärte einmal: „Der Grundgedanke – dass jeder Mensch die gleiche Würde hat – kommt aus Griechenland und aus dem Judentum; er hat aber im Christentum seine wesentliche Ausprägung erfahren. Der Mensch ist Ebenbild Gottes, Gott ist Mensch geworden. Das ist ein nahezu revolutionärer Gedanke. Das heißt: Jeder Mensch kann diesem Gott eine Heimat geben! Das ist ja ein radikaler Gleichheits- und Freiheitssatz, wie es ihn in der Rechtsgeschichte als solchen noch nie gegeben hat“ (wir berichteten).

Wie Kirchhof betont auch Wolfgang Thierse in seinem Beitrag im Mai 2020 im Portal „feinschwarz.net“, dass aus dem Glauben an die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine „radikale Vorstellung von der gleichen Würde jedes Menschen“ folge, aus der wiederum sich der Antrieb entwickle, gegen Ungerechtigkeiten, Gewalt und Unterdrückung anzukämpfen. Dazu erklärte der gläubige Katholik weiter:

„Dieser spezifische Freiheitssinn ist der eigentliche und tiefe Ur-Grund für den Widerstand von Christen, von religiösen Menschen gegen autoritäre Regime und Diktaturen.“

Als Zeugen dieser Widerständigkeit benannte Thierse Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp oder die Geschwister Scholl ebenso wie Bischof Oscar Romero, Erzbischof Dom Helder Camara, die polnische Freiheitsbewegung Solidarnosc oder die friedliche Revolution von 1989 in der damaligen DDR.

Zudem hob Wolfgang Thierse den Wert von Religion und Religionsfreiheit als Quelle eines guten und gelingenden Lebens  hervor. Immer dann, wenn diese Hoffnungen mit der Realität kollidierten, entstehe kritisches und die Demokratie letztlich vorantreibendes politisches Potenzial, gab Thierse zu bedenken.

Dass Religion niemals aus der Öffentlichkeit verschwinden möge, machte Wolfgang Thierse mit folgenden Worten deutlich:

„So sehr die Zahl der Konfessionslosen, Agnostiker, Atheisten zunehmen mag, so wenig verschwindet Religion offensichtlich aus dem privaten wie öffentlichen Leben in unserer Gesellschaft – als Sinnstiftung individuellen Lebens, als Motivation für soziales Engagement, als Sensibilität für Mitleiden und Vergeben, als normative Bindekraft für eine zerklüftete Gesellschaft.“

 

Im Dezember 2022 äußerte sich Wolfgang Thierse im Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ zur wachsenden Distanz der Deutschen zur Kirche und bezeichnete es dabei sogar als „dumm“, Kirchen für verzichtbar zu halten.

Zu einer Haltung, dass christlicher Glauben auch ohne Kirche möglich sei, gab Wolfgang Thierse im Zeit-Interview zu bedenken:

„Es geht ohne Kirche, aber es geht nicht lange.“

Christ-Sein ist seiner Meinung nach eine Sache der Gemeinschaft. So heiße es im wichtigsten Gebet der Christen auch „Vaterunser, nicht Vatermein“. Den Bedeutungsverlust der Kirchen sieht er neben den eigenen Verfehlungen auch in einer „modischen Geringschätzung der Institutionen“ an sich. Thierse erinnerte daran, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes „größtenteils Christen“ waren und „ihre Überzeugungen in eine Sprache gefasst [haben], die niemanden ausschließt“. Daran könne man heute nicht einfach so vorbeigehen, mahnte der 1943 im Breslau geborene Germanist und Kulturwissenschaftler, der ab 1975 in der DDR im Ministerium für Kultur in der Abteilung Bildende Kunst tätig war, bis er entlassen wurde, nachdem er sich geweigert hatte, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der er die Ausbürgerung von Wolf Biermann befürworten sollte.

Wolfgang Thierse erklärte im Zeit-Interview 2022, dass er aufgrund seiner Biographie „eine mildere Einstellung“ zur Kirche habe als andere, die heute der Kirche aufgrund ihrer Verfehlungen den Rücken zukehren. Seine Haltung begründet Thierse mit der Abwertung von Kirche, die er als Bürger in der ehemaligen DDR „von Kindesbeinen an“ erlebte, wo Kirche den Ruf erhielt „als eine kritisierte, beschimpfte, verteufelte Institution, die man gefälligst zu verlassen hat, wenn man ein intelligenter Mensch ist“. Schon in früher Kindheit sei er mit den Kreuzzügen der Kirche sowie „dumpfen oder feineren Angriffen“ gegen seine Kirchenzugehörigkeit konfrontiert gewesen. Auch mit Blick auf das selbst Erlebte, betonte der ehemalige Bundestagspräsident:

„Ich warne davor, sich schwache Kirchen zu wünschen.“

Im Zeit-Gespräch bezeichnete Wolfgang Thierse es sogar als „dumm, Kirchen für verzichtbar zu halten“. Die Kritik von Menschen, die wenig oder nichts von der christlichen Prägung des Landes wissen, ärgere ihn. Dazu sagte er:

„Die Verachtung für das Erbe des Christentums und seine universalistische Idee ist geschichtsvergessen.“

Diese Erscheinung bezeichnet er als „Jetzismus“, in dem er „eine ideelle und kulturelle Verarmung“ erkennt.

Dass ihm schlussendlich um die Zukunft der Kirche nicht bange ist, bringt Wolfgang Thierse mit einem Blick auf die Vergangenheit wie folgt zum Ausdruck:

„Dass es diese Kirche noch immer gibt trotz ihrer Vergehen, ihres Versagens und ihres Elends, das ist für mich der beste Beweis dafür, dass sie nicht einfach nur Menschenwerk ist.“

Quellen: domradio.de (1), domradio.de (2), katholisch.at, zeit.de

Hinweis: 

Am 31.10.2023 hielt Wolfgang Thierse zum Thema „Warum man die Kirche braucht“ den Festvortrag zur Feier des Reformationsfestes in St. Sebaldus, Nürnberg. Diesen Vortrag zum Nachlesen gibt es unter folgendem Link:

thierse.de